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Meinung Gastbeitrag

Wir brauchen Einwanderung in unser Sozialsystem

Der Autor: Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 deutscher Bundeskanzler Der Autor: Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 deutscher Bundeskanzler
Der Autor: Gerhard Schröder war von 1998 bis 2005 deutscher Bundeskanzler
Quelle: Martin U. K. Lengemann
Wer versucht, die Tür zum Asylverfahren zu schließen, der muss eine legale Tür zur Zuwanderung öffnen. Denn nur so ist Migration kontrollierbar. Wir werden Europa nicht abschotten können.

Hunderttausende Flüchtlinge werden dieses Jahr nach Deutschland kommen, und keinesfalls ist damit zu rechnen, dass dieser Zustrom von Menschen in den nächsten Jahren wieder abnehmen wird. Denn in den Herkunftsländern herrschen Bürgerkriege und Perspektivlosigkeit; Zustände, die sich nur langfristig ändern werden. Es braucht das starke Engagement der internationalen Gemeinschaft, um in den betroffenen Staaten wieder Frieden, Stabilität und Sicherheit zu erreichen. Aber das ist ein Prozess von Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten.

Eines ist jedoch klar: Es gibt keine einfachen Antworten. Wir werden Europa nicht abschotten können. Weder das Mittelmeer noch neue Mauern, wie sie etwa in Ungarn gebaut werden, halten Menschen in ihrer Verzweiflung auf. Und auf die verabscheuungswürdigen Angriffe auf Flüchtlingsheime darf es nur eine Reaktion geben: Der demokratische Staat muss alle seine Mittel anwenden, um rechte Gewalttäter und ihre Claqueure dingfest zu machen und vor Gericht zu stellen.

Aber wir erleben auch eine große Binnenwanderung innerhalb Europas. Rund 40 Prozent der Menschen, die sich im ersten Halbjahr 2015 in Deutschland im Asylverfahren befinden, stammen aus Ländern des westlichen Balkans: Serbien, Mazedonien, Kosovo, Albanien. Es sind Länder, die Demokratien sind, die aber ihren Bürgerinnen und Bürgern, vor allem der jungen Generation, kaum Perspektiven für ein berufliches Weiterkommen und ein Leben in Würde bieten.

Die Floskel „sicheres Herkunftsland“

Diese Menschen kommen nach Deutschland, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen. Das Asylverfahren bietet ihnen aber keine Perspektive auf einen Verbleib in unserem Land. Es ist für beide Seiten eine Situation, die keinen Gewinn erzeugt; weder für die, die zu uns kommen. Noch für Deutschland, das diese Menschen vorübergehend aufnimmt und sie dann wieder in ihre Heimat zurückführt. Das ist auch richtig, denn auf Dauer können wir denjenigen, die wirklich Schutz brauchen, nur helfen, wenn diejenigen, die keinen Asylanspruch haben, schnell zurückkehren.

Wir wissen aber auch, dass die juristische Deklaration dieser Staaten als „sichere Herkunftsländer“ das Problem nicht beheben wird. Für die Menschen in diesen Ländern ist „sicheres Herkunftsland“ eine nichtssagende Floskel. Wir können damit umgehen, weil wir in Sicherheit leben; denn Sicherheit heißt eben auch, eine Perspektive für ein Leben in Würde zu haben. Und genau daran fehlt es in diesen Ländern. Und deshalb hilft diese Definition nicht weiter.

Wenn wir versuchen, die Tür zum Asylverfahren zu schließen, dann müssen wir daher eine legale Tür zur Zuwanderung öffnen. Nur in der Legalisierung der Zuwanderung besteht die Chance, diese kontrolliert zu halten. Hierfür braucht es zweierlei: Erstens ein modernes Zuwanderungsrecht, das diesen Namen verdient. Und zweitens ein Programm, das in den Herkunftsländern die Menschen so qualifiziert, dass sie für den deutschen Arbeitsmarkt auch wirklich geeignet sind.

Das deutsche duale System der Berufsausbildung ist einzigartig. Es garantiert Deutschland eine zuverlässige Versorgung mit qualifizierten Facharbeitern und Handwerkern. Die seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenraten in Deutschland wirken sich jedoch zunehmend auf dem Ausbildungsmarkt aus. Rund die Hälfte der Betriebe kann Ausbildungsstellen nicht besetzen, insbesondere viele kleine und mittlere Unternehmen. Nach neusten Schätzungen des Zentralverbands des Deutschen Handwerks fehlen 27.000 Lehrlinge. Warum rekrutieren wir diesen Bedarf nicht auch in den Ländern des westlichen Balkan?

Bildung muss belohnt werden

Wir werden das System der dualen Ausbildung nicht exportieren können. Aber wir können zum Beispiel in einer gemeinsamen Aktion von Bundesregierung und deutschem Handwerk Berufsbildungszentren in diesen Staaten schaffen, um junge Menschen für ihren eigenen Arbeitsmarkt zu qualifizieren oder sie auf eine Ausbildung in Deutschland sprachlich, kulturell und beruflich vorzubereiten.

Und wir sollten ihnen, wenn sie es wollen, die Chance anbieten, nach erfolgreicher Absolvierung auf Dauer in Deutschland leben zu können. Damit wäre allen Seiten geholfen, denn sowohl die Herkunftsländer würden von besser qualifizierten Arbeitnehmern profitieren und Deutschland könnte seinen Fachkräftemangel mildern.

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Deutschland braucht endlich eine moderne Zuwanderungspolitik – das ist im Kern die Herausforderung für eine neue Agenda 2020. Denn der demografische Wandel bedroht Deutschlands Rolle als erfolgreiche Wirtschaftsnation. Die Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes geht davon aus, dass die Einwohnerzahl ohne Zuwanderung dramatisch sinken wird.

Sicherung der Renten

Besonders stark wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpfen. Bereits im Jahr 2030 könnten uns 6 Millionen erwerbsfähige Menschen fehlen, im Jahr 2050 dann 12 Millionen. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Wachstumschancen. Auch wird sich Infrastruktur, wie Schulen und Krankenhäuser, in schwach besiedelten Regionen nicht aufrechterhalten lassen. Ein Prozess, den wir bereits im Osten Deutschlands erleben.

Für unsere umlagefinanzierte Sozialversicherung sind die Folgen des Alterungsprozesses besonders schwerwiegend. Der Generationenvertrag ist in Gefahr. Das Verhältnis Beitragszahler zu Rentner beträgt heute 2 zu 1, im Jahr 2030 dürfte es bei 1,5 zu 1 liegen. Auch die Rentenbezugsdauer steigt kontinuierlich an. Lag sie 1960 noch bei zehn Jahren, sind es heute 19 Jahre. Und sie wird weiter steigen. Was wir also brauchen, ist eine Einwanderung in unser Sozialsystem. Denn ohne diese können wir Renten in der Zukunft gar nicht mehr finanzieren.

Es ist Zeit für ein modernes Zuwanderungsrecht. Die von meiner Bundesregierung eingesetzte Kommission „Zuwanderung“ unter Leitung von Professor Süssmuth hatte bereits im Jahre 2001 einen wegweisenden Vorschlag unterbreitet, dessen gesetzliche Realisierung damals leider am Widerstand der Opposition scheiterte. Obwohl es bereits 14 Jahre her ist, sind diese Vorschläge immer noch aktuell. Denn wenn wir auch in Zukunft ein sozial und wirtschaftlich starkes Land sein wollen, dann brauchen wir Zuwanderung.

Wir dürfen diese Migration in und nach Europa nicht durch neue Eiserne Vorhänge zu verhindern versuchen. Stattdessen müssen wir sie steuern, müssen integrieren und müssen Perspektiven in den Herkunftsländern schaffen. Man kann leider noch nicht erkennen, dass sich Europa dieser Aufgabe stellt.

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