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Ausland „Welt“-Korrespondent

Deniz Yücel – das Haftprotokoll

Deniz Yücel ist seit dem 14. Februar in türkischem Polizeigewahrsam Deniz Yücel ist seit dem 14. Februar in türkischem Polizeigewahrsam
Deniz Yücel ist seit dem 14. Februar in türkischem Polizeigewahrsam
Quelle: Esra Gültekin
Im türkischen Polizeigewahrsam darf Deniz Yücel nicht schreiben. In solchen Fällen diktieren gefangene Autoren und Journalisten ihren Anwälten in Besuchszeiten häufig Berichte. Diesen Text haben Yücels Verteidiger mitgebracht.

Bericht nach neun Tagen Polizeihaft im Polizeipräsidium Istanbul, Vatanstraße, Aksaray.

Der Korrespondent muss mal wieder was liefern. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.

Polizeigewahrsam? – Polizeihaft!

Sachverhalt: Seit dem Ausnahmezustand wird in der Türkei die Polizeihaft oft als Bestrafungsinstrument benutzt. Immer wieder sitzen Leute bis zu 14 Tage (bis vor Kurzem: bis zu 30 Tage) und werden danach laufen gelassen. Darum Polizeihaft, nicht Polizeigewahrsam. Und manche Ex-Gefangene sagen, im Gewahrsam seien die Bedingungen härter als in vielen Gefängnissen.

Schreiben/Lesen

Bücher sind, sofern politisch „unbedenklich“, erlaubt. Stift und Notizblock sind verboten. Ausblick aus meiner Zelle. Oben: Wanduhr mit türkischer Fahne auf dem Zifferblatt. Rechts: Heizkörper mit eingeklemmten Essenskonserven zum Aufwärmen. Vorn: überall Gitterstäbe.

Licht

Auf dem Korridor brennt unentwegt dasselbe Neonlicht. In den Zellen ist es stets schummrig: Zu hell zum Schlafen, zu dunkel zum Lesen. Geht aber beides irgendwie.

Gabriel fordert Freilassung von Türkei-Korrespondent

Der deutsche Journalist Deniz Yücel sitzt in der Türkei hinter Gitter. Unterstützer fahren für ihn im Autokorso. Auch der Außenminister Gabriel macht sich für eine Freilassung stark.

Quelle: N24

Außenwelt

Man hört ab und zu die Straßenbahn. Sonst keine Geräusche und kein Tageslicht.

Zellengröße

2,10m x 3,5m. Ziemlich genau gemessen durch liegen. Höhe: 4m (geschätzt).

Zellenausstattung

2 betthohe, dicke Matratzen, dazu eine flache auf dem Boden. Blaues Kunstleder, Turnmatten-Style. 4 Decken, kein Kissen. Drei Wände Beton, Frontseite komplett Stahlgitter. Wände graugelb, Gitter braun.

Belegung

2–3 Leute. Manchmal auch 4, ist mir bislang aber nicht passiert. Ich immer zu zweit oder zu dritt, einmal allein.

Luft

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Schlecht, miefig, stinkt nach Körpergerüchen, stickig. Die Polizisten sagen: „So leer wie in den letzten Tagen war es hier seit dem Putschversuch nicht mehr. Ihr hättet mal riechen sollen, als hier in jeder kleinen Zelle fünf Leute saßen.“

Kälte

Auch als es draußen noch kälter war, habe ich hier nicht gefroren. Ist gut beheizt.

Uhrzeit

Meine Zelle ist genau gegenüber der einzigen Uhr auf dem Korridor. Mitgefangene fragen immer wieder nach der Uhrzeit; ich frage mich, ob es gut oder schlecht ist zu sehen, wie langsam die Sekunden verstreichen. Es ist eine Fabrikuhr mit Sekundenzeiger, auf dem Zifferblatt eine türkische Fahne.

Umgang

Noch vor 15, 20 Jahren war das hier eine Folteranstalt. Ich habe hier keine Gewalt gesehen und von keiner gehört. Die Beamten, die den Trakt beaufsichtigen, sind manchmal etwas grob im Ton, aber nicht ausfallend oder beleidigend. Und im Rahmen der Vorschriften sind sie hilfsbereit, meistens jedenfalls. Kritisch sind manchmal die Krankenhaustransporte. Aber dafür ist die jeweils ermittelnde Polizeiabteilung zuständig.

Handschellen

Mir wurden auf dem Weg zur täglichen medizinischen Untersuchung noch keine Handschellen angelegt. Bei anderen passiert das schon. So weit ich sehen kann, hängt das von der Abteilung ab und von der Größe der Gruppe, die zur Untersuchung gebracht wird.

Medizinische Check-ups

Die meisten Gefangenen werden einmal am Tag zum Check-up gebracht. Entweder zu Fuß in eine kleine Klinik unmittelbar am Gelände. Oder mit Autobus in eines der benachbarten Krankenhäuser. Ich wurde fast immer allein transportiert. Wichtig, weil das die einzigen Minuten frische Luft und Tageslicht am Tag sind.

Ärzte

Die wollen nicht mehr als pro forma das Fehlen von Folterspuren feststellen. Um jede Minute Aufmerksamkeit und jedes Medikament musste ich kämpfen. Das Gute: Bislang habe ich alle diese Kämpfe gewonnen.

Medikamente

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Alles, selbst Vitaminpräparate, muss ärztlich verschrieben werden. Auf dem Rückweg besorgt ein Polizist die Medikamente, ich bezahle, zweimal am Tag ist Ausgabe.

Essen

Morgens pappiges, kaltes Toastbrot mit Käse/Wurst. Mittags und abends Essen aus Konserven. Sieht immer gleich aus und schmeckt immer gleich elendig. Bohnen, Kichererbsen, Kartoffeln mit Fleisch. Das Schlimmste ist nicht mal der Geschmack, sondern der Geruch. Ich wärme die Konserven zwischen den Heizrohren der Heizung auf dem Korridor auf (so gut es geht).

Trinken

3 x 0,5l-Wasserflaschen täglich. Wenn man nachfragt auch mehr. Nie Kaffee oder Çay.

Toiletten

Vier Toiletten für bis zu 70 Gefangene auf dem Korridor. Fünfmal am Tag ist Klo-Gang, meistens zwei, drei Zellen auf einmal. Wenn man bittet und der Polizist Lust hat, kann man auch zwischendurch. Erst kommen immer die Frauen, die am Anfang des Korridors sitzen. Es gibt Wasser, aber kein Klopapier. Geputzt werden die Toiletten nicht.

Duschen

Auf meinem Korridor gibt es eigentlich vier Duschen, wie ich einmal per Zufall gesehen habe. Aber dieser Raum ist verschlossen. Auf der Toilette im anderen Korridor ist in einer Kabine eine Dusche. Das warme Wasser reicht nur circa 10 Minuten. Der Duschkopf ist defekt, sodass die Sachen, die man über die Tür hängt, nass werden. Absoluter Badelatschenzwang. Ergebnis bei 1 Dusche für 150 Leute: Ich habe in 9 Tagen zweimal geduscht. Standardantwort, wenn man solche Themen anspricht: „Das ist kein Hotel.“ Ach nee, und ich dachte schon…

Rauchen

Verboten. Nach 9 Tagen für mich immer noch das Schlimmste.

Deniz Yücel _ Autokorso Flörsheim (13)

Besuche

Außer Anwaltsbesuchen kein Kontakt erlaubt. Anwalt kann kommen, so oft er will. Ohne Anwalt keine frische Wäsche, Handtücher, Zahnpasta etc. Anwaltsbesuch rechtlich hinter verschlossener Tür. Aber Tür bleibt meistens offen. Draußen wartet ein Polizist. Nach ca. 20 Minuten fordert er, dass wir zum Ende kommen.

Extras

Dreimal sind wir mit einem Auto in ein Krankenhaus in der Nähe gefahren. Die Polizisten haben geraucht und ich mit ihnen. (Danke dafür!)

Und ich nehme jetzt ein Vitaminpräparat, das ich mir beim Arzt erkämpft habe.

Sauberkeit

Tagsüber ist hier ein älterer Herr, den alle Dayi („Onkel“) nennen. Er verteilt das Essen aus einem Einkaufswagen, bringt den Müll weg, und er kehrt die Korridore: Dass er die Toiletten putzt, glauben wir nicht. Die drei Waschbecken hat jeden Morgen ein gefangener pensionierter Polizist geputzt; der ist jetzt weg. Einmal in neun Tagen hat Onkel das Innere der Zelle gekehrt. Und ich hatte Glück: Als ich ankam, waren die 4 Decken in der Zelle noch leicht feucht, weil frisch gewaschen. Danach wurden keine Decken mehr gewaschen. Wer neu kommt, nimmt die benutzte Decke des Vorbesitzers. Logisch. Ist ja kein Hotel hier.

Spiegel

Spiegel gibt es nicht. Neulich beim Arzt habe ich in den Spiegel geschaut: Ziemlich grau. Liegt vielleicht auch am Bart. Mein voriger Zellengenosse sagt: „Du siehst aus wie Karl Marx.“ Der für den Trakt verantwortliche Polizist (Mitte 30, groß, kräftig, laut) sagt: „Karl Marx hatte recht. Die Leute sind verrückt nach Geld.“ Und er sagt: „Schreib’ was Nettes über uns. Nicht dass du hieraus ein ‚Midnight Express‘ machst“ (in der Türkei sehr bekannter aber unbeliebter US-Film über den türkischen Knast). So weit er kann, versucht der Chef, hilfsbereit mir gegenüber zu sein. Und je länger ich hier sitze, umso netter werden alle zu mir. Und ich werde auch nett. Alles nett.

Mein Zustand

Mir geht es ganz gut. Für die gesundheitlichen Probleme (Magen-Darm) bekomme ich die erkämpften Medikamente. Aber wenn ich nicht seit 9 Tagen hier eingesperrt wäre, hätte ich diese Probleme nicht.

Respekt

Das Folgende sage ich, weil es für einen ausländischen Journalisten auch anders ausgehen könnte: Alle Mitgefangenen zeigen mir viel Respekt. Für die wenigen, die etwa so alt sind wie ich, 43, oder älter, bin ich Deniz Bey, für die jüngeren Deniz Abi.

Zellen-Ağa

Mein Anwalt spottet schon, ich sei ein „koguş ağa“, geworden, eine aus der Zeit der großen Gemeinschaftszellen in den Gefängnissen bekannte Figur des Zellenhäuptlings. Jedenfalls habe ich das wichtigste Utensil eines Zellen-Ağa: einen kleinen Rosenkranz zum Spielen, gebastelt aus Papiertaschentüchern, weil echte nicht erlaubt sind.

Post

Noch wertvoller als die paar Minuten frische Luft auf dem Weg zum Arzt sind die Anwaltsbesuche. Anwalt bedeutet: frische Socken und vor allem Post von draußen! Der Anwalt bringt mir Nachrichten aus meiner Redaktion, Grüße von meiner geliebten Dilek und von meinen Freunden, und Zeitungsartikel. In die Zelle mitnehmen darf ich die Ausdrucke nicht, nur im Anwaltsraum lesen. Das meiste kann ich nur überfliegen, weil die Zeit knapp ist. Und weil mich das alles so sehr rührt, dass mir die Tränen hochsteigen. Das darf einem hier eigentlich nicht passieren. Aber das tut so gut. So unglaublich gut zu wissen, dass ich hier nicht allein bin und vergessen werde.

Danke

Ich danke von ganzem Herzen allen, die sich wo und wie auch immer für mich und meine inhaftierten Kollegen einsetzen.

#FreeDeniz

#FreeAllJournalists

#DankeDafür

DANKE, DANKE, DANKE!

Teşekkürler:

İlgilenen, duyarlı olan herkese candan yürekten teşekkürler.

Vatan Caddesin'den sevgiler, selamlar.

Korso

Und besonders großes Danke für #FreeDeniz-Autokorso. Beste Solidarität wo gibt. Trööt!

Der Autokorso für Deniz Yücel
Quelle: Alex Kraus

Besonderer Dank

Eigentlich sind es so viele, dass ich niemanden hervorheben kann. Muss ich aber: Mein besonderer Dank an meine geliebte Dilek und meinen Kollegen Daniel-Dylan Böhmer. Ich werde euch das nie vergessen.

Außerdem: Dank an meine Zeitung, „Die Welt“, an meinen Verlag, den Axel-Springer-Verlag, und an meine alte Zeitung, die taz. Und an meine ganz alte Wochenzeitung, die „Jungle World“. Und ich danke der Bundesregierung für ihre Bemühungen.

Und Dank an meine Schwester Ilkay Yücel, an Özlem Topcu, Doris Akrap, Imran Ayata, Ulf Poschardt, Sascha Lehnartz und Özcan Mutlu.

Schluss

Als Nazmi, der Makler, mit dem ich vier Tage die Zelle geteilt habe, am Mittwoch ging, hat er das Etikett einer Wasserflasche von innen ans Zellengitter geklebt. „Eine Erinnerung“, sagte er dabei. 24 Stunden danach ist das Etikett abgefallen. Dieser Ort hat keine Erinnerung. Alle, die ich hier kennengelernt habe – Makler, Katasterbeamte, meine Zellengenossen Nazmi, Zahnarzt – alle haben mir gesagt: „Du musst das aufschreiben, Deniz Abi.“ Ich habe gesagt: „Logisch mache ich. Ist schließlich mein Job. Wir sind ja nicht zum Spaß hier.“

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