Die Enkelin vom Kindergarten abholen? Ihr die Lieblingspasta kochen und Gutenacht-Geschichten vorlesen? Nina Artioli lacht. Nein, so eine Großmutter war Gae Aulenti bestimmt nicht. Dafür wäre im Leben der italienischen Architektin, Designerin und Bühnenbildnerin, die 2012 mit 85 Jahren gestorben ist, gar kein Raum gewesen. Und um Konventionen scherte sie sich schon gar nicht.
Gaetana Aulenti, wie sie eigentlich hieß, zweimal verheiratet, zweimal geschieden, von Neugier getrieben, viel reisend, ständig lesend, dauernd rauchend, war eine Grande Dame, eine Powerfrau, lange bevor es das Wort überhaupt gab. Und statt mit ihrer Enkelin den Spielplatz zu besuchen, nahm sie das Kind mit nach Tokio, wo sie in Gegenwart des Kaisers ausgezeichnet wurde. Oder auf die Baustelle des Pariser Musée d’Orsay, ihr bekanntestes Projekt. Für die Realisierung wurde sie 1987 zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen. „Sie war eine außergewöhnliche Persönlichkeit, sie war sehr stark“, sagt Nina Artioli, die selbst ein Architekturbüro in Rom führt. „Wir hatten ein großartiges Verhältnis“.
Also versprach sie der Großmutter, ihren Nachlass zu ordnen und gründete das „Archivio Gae Aulenti“ in Aulentis Apartment im Mailänder Brera-Viertel. Mehr als 700 Projekte hat sie seit 2012 schon katalogisiert. Die Wohnung soll ein Ort für kleine Ausstellungen und Lesungen werden, „eine Art moderner Salon, das hätte meiner Großmutter bestimmt gefallen.“ Noch ist das Archiv nicht öffentlich zugänglich, doch man kann davon ausgehen, dass es die Architektin international bekannter machen wird. In Italien nennt man sie in einem Atemzug mit Ettore Sottsass, Achille und Pier Castiglioni oder Joe Colombo, im Ausland aber wissen nach wie vor nur Architektur- und Designenthusiasten von ihr.
Gae Aulenti ist ein klassischer Fall von „Ach, die ist das“. Ihre Werke kennt man durchaus. Da ist die Piazzale Cadorna, auf die jeder Mailand-Besucher trifft, der vom Flughafen Malpensa mit dem Zug in die Stadt hineinfährt. Den Vorplatz des bekannten Bahnhofs gestaltete sie mit langen, von dicken roten Säulen getragenen Glasdächern.
Ihr Sofatisch „Tavolo con Ruote“ (1980 für Fontana Arte entworfen), für den sie eine dicke Glasplatte auf vier dicke Industrierollen setzte, wurde in die Sammlung des Museum of Modern Art aufgenommen:
Ihre Tischleuchte „Pipistrello“ – „Fledermaus“, deren gläserner Schirm an herabhängende Flügel erinnert, wird seit 1965 ununterbrochen von Martinelli Luce hergestellt und ist einer der bekanntesten italienischen Leuchtenklassiker überhaupt:
Und ihr Hauptwerk besuchen jährlich 3,8 Millionen Besucher: das Musée d’Orsay in Paris. Gae Aulenti verwandelte das Innere des ehemaligen Bahnhofs in eine spektakuläre offene Kunsthalle für impressionistische Malerei. Ach, die ist das?
Dass es Gae Aulenti noch zu entdecken gilt, liegt vielleicht auch daran, dass sie in der von Männern dominierten Architektur- und Designszene eine Ausnahmeerscheinung war. Sie selbst allerdings „wollte einfach ihre Arbeit machen“, sagt Nina Artioli. „Sie hasste die Idee, als weibliche Architektin kategorisiert zu werden.“. „Es ist egal, ob man eine Frau oder ein Mann ist“, betonte sie immer wieder. „Man wird für sein Wissen geschätzt.“ Dass sie ihren Vornamen zu Gae verkürzte, was ähnlich wie „guy“ ausgesprochen wird, empfand wohl nur als kokett, wer sie nicht persönlich kannte.
In Palazzolo dello Stella in der Provinz Udine als Kind süditalienischer Eltern geboren, setzte Aulenti sich schon früh gegen Traditionen und ihre eigenen Ideen durch. Statt zu heiraten, entschied sie sich für ein Studium. Zunächst Kunst, in Florenz. Doch „Italien war damals zerstört und die Architektur ein Feld, auf dem man intervenieren konnte“, erklärte sie einmal. Also wechselte sie zur Architektur am renommierten Politecnico in Mailand und machte ihren Abschluss 1953 als eine von zwei Frauen. Sie wurde Redakteurin bei der Designzeitschrift Casabella, unterrichtete am Politecnico, bekam eine Tochter: die Kostümdesignerin Giovanna Buzzi, Ninas Mutter.
1960 begann sie für Olivetti zu arbeiten, einst Italiens große Schreibmaschinen- und Computerfirma. Trotz eines Vorstellungsgespräches, das so schweigend verlief, dass Aulenti schließlich währenddessen in einer Technik-Zeitschrift blätterte. Sie gestaltet den Showroom für Olivetti in Paris, für den auch die Leuchte „Pipistrelli“ entsteht. Sie lernt die Agnelli-Familie kennen, richtet für sie Wohnsitze in Paris, Marrakesch und St. Moritz ein und wird später beauftragt, den Palazzo Grassi in Venedig zu restaurieren und umzubauen.
Ihr eigenes Büro gründet Gae Aulenti 1970. Sie lernt den Regisseur Luca Ronconi kennen, der als Rebell der Theater-Szene gilt, und entwirft Bühnenbilder. „Durch meine Arbeit für das Theater habe ich den Wert der Bewegung für die Architektur verstanden“, erklärt sie. Das wird gerade bei der Ausstattung des Musée d’Orsay deutlich, „in den Wegen, in den Übergängen von einem Raum in den anderen. Es ist eher eine Idee der Zeit, als des Raumes.“ Das 1986 vollendete Projekt bringt ihr den internationalen Durchbruch, aber auch harsche Kritik ein. „Die einen schätzten den Entwurf, die anderen nicht“, sagte sie. „Das ist ideal. Wenn sich alle einig sind, stimmt etwas nicht.“ Im Übrigen erhielt sie den französischen Verdienstorden „Chevalier de la Légion d’Honneur“ für ihren Entwurf.
Obwohl die Projekte immer größer werden, beschäftigt sie nie mehr als drei, vier Mitarbeiter in ihrem Büro, das neben ihrem Apartment liegt. „Sie wollte nicht wachsen, sondern immer alles unter Kontrolle haben“, erklärt ihre Enkelin. Aulenti konzipiert den „Palazzo Italia“ für die Expo 1992 in Sevilla, gestaltet die Räume für die permanente Kollektion des Centre Pompidou, baut Museen in San Francisco und Barcelona, ein Flughafengebäude in Perugia und das Italienische Kulturinstitut in Tokio.
Ob sie historische Gebäude umgestaltet oder neue errichtet, immer nimmt sie Bezug auf die Umgebung, statt eine eigene Handschrift durchzusetzen. „Man kann nicht in San Francisco das gleiche wie in Paris machen“, sagte sie. „Was zählt, ist der Kontext von Körper und Konzept, weswegen mir sehr wichtig ist, vorher die Geschichte zu studieren, die Literatur, die Geografie, auch die Poesie und die Philosophie. Man muss jedes Mal neue Lösungen erfinden. Dann kommt die Synthese und zuletzt der prophetische Teil: Die Fähigkeit, Dinge zu konstruieren, die der Zukunft standhalten.“
Zugleich bewegt sie sich bei ihren Entwürfen für Möbel und Leuchten mit großer Freiheit durch Geschichte und Gegenwart. „Pipistrello“ etwa hat Anklänge an den Jugendstil, der Glastisch „Tavolo con Ruote“ spielt auf die Readymades von Marcel Duchamp an. Und da sie sich auch gern mit Gärten- und Landschaftsarchitektur beschäftigte, entwarf sie in den 60er-Jahren „als erste Architektin eine Kollektion von Outdoor-Möbeln“, sagt Nina Artioli. Tatsächlich wurden die bunten Stahlrohr-Möbel der Serie „Locus Solus“ ein großer Erfolg, Romy Schneider und Alain Delon blinzeln in „Swimmingpool“ auf ihnen sitzend in die Sonne. Seit 2016 werden die Stühle von der Möbelfirma Exeta wieder produziert.
Es sollen noch mehr Reeditionen werden, irgendwann. Bis dahin gibt es in Mailands neuem Stadtteil Porta Nuova einen Platz, der mehr und mehr zum touristischen Highlight wird. Spektakulär wie eine ihrer Rauminszenierungen, ist er ihrem Andenken angemessen: die Piazza Gae Aulenti.
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