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Jugend in Pariser Vorstadt: Kameras und Kalksteinvillen

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Jugendliche in Frankreichs Banlieues Kurz vor dem Knall

Armut, Wut, Polizeigewalt - in Frankreichs verarmten Vorstädten drohen wieder schwere Krawalle. Präsident Macron will mehr Ordnungshüter einsetzen. Das eigentliche Problem geht auch er nicht an.

Bilel, 29, Lastwagenfahrer aus dem Pariser Vorort Aulnay-sous-bois, glaubt der Polizei kein Wort. Mitte September wurde sein jüngerer Bruder Yacine tot in einem Keller in der 82.000-Einwohner-Stadt nordöstlich von Paris gefunden. "Die Polizei behauptete, er sei an einer Überdosis Kokain gestorben und habe eine kleine Verletzung an der Stirn", sagt Bilel. "Doch Yacine war nicht drogensüchtig."

Im Leichenschauhaus seien der Familie ein Hämatom am Auge und Schrammen im Gesicht aufgefallen. "Wir haben aus den Medien erfahren, dass er mit heruntergezogener Hose gefunden wurde", erzählt Bilel. "Warum sagt die Polizei uns das nicht selbst?"

Bilel steht auf einem Parkplatz neben dem Hochhaus, in dem er aufgewachsen ist. "Justice pour Yacine" - "Gerechtigkeit für Yacine" - hat jemand auf eine Stahltür hinter ihm gesprüht.

Es würde Bilel nicht überraschen, wenn ein Polizist seinen Bruder umgebracht hätte. Auch wenn es dafür keine Beweise gibt.

Sein Misstrauen steht für die großen Probleme in den verarmten Vororten französischer Großstädte. Denn in den Banlieues offenbart sich Frankreichs desaströse Integrationspolitik: Der Staat zog in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren in urbanen Randzonen sogenannte Cités empor, Hochhaussiedlungen für Industriearbeiter. Heute reiht sich dort Sozialwohnung an Sozialwohnung, die Arbeitslosigkeit ist hoch, und viele Bewohner, meist afrikanische und nordafrikanische Zuwanderer und deren Kinder und Enkel, fühlen sich ausgegrenzt.

Prämie von 15.000 Euro

"Ich würde jede Arbeit machen", sagt der 26-jährige Keke aus Aulnay-sous-bois, der seit Monaten einen Job sucht. "Aber sie wollen mich nicht." Der junge Mann streicht sich über die dunklen Arme. "Es ist die Hautfarbe", glaubt er. In seinem Viertel ist mindestens jeder dritte Jugendliche arbeitslos.

Seit Ende der Siebzigerjahre kommt es in den Vorstädten immer wieder zu Krawallen, die 2005 wochenlang eskalierten. Keine Regierung hat es bisher geschafft, die sozialen Konflikte dahinter zu lösen.

Nun versucht sich Präsident Emmanuel Macron daran: Wer Menschen aus sozial schwachen Stadtteilen unbefristet einstellt, soll eine Prämie von 15.000 Euro bekommen. Außerdem will Macron eine "Polizei der alltäglichen Sicherheit" aufbauen , die sich in schwierigen Vierteln besser um die Sorgen der Bürger kümmert. 10.000 Polizisten sollen dafür in den kommenden Jahren neu eingestellt werden.

Ob die Regierung die Probleme so in den Griff bekommt, ist fraglich. Bisher hat mehr Polizei die Lage eher verschärft: Gewalt, die von Beamten ausgehe, habe die meisten Ausschreitungen in den Vororten entfacht, sagt Politikwissenschaftler Fabien Jobard vom Centre Marc Bloch in Berlin.

Manchmal reichen auch entsprechende Gerüchte - wie im Fall Yacine. Danach brannten in Aulnay-sous-bois Autos und ein Kindergarten, Hunderte Menschen demonstrierten.

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Jugend in Pariser Vorstadt: Kameras und Kalksteinvillen

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"Die Situation kann jederzeit wieder eskalieren", sagt Jobard, der seit 20 Jahren urbane Unruhen in Frankreich erforscht.

Auch im Februar hätte nicht viel gefehlt: Da passierte, ebenfalls in Aulnay-sous-bois, die "Affäre Théo". Vier Polizisten misshandelten einen 22-Jährigen mit kongolesischen Wurzeln, einer soll ihm einen Schlagstock in den Anus gestoßen haben.

Es folgten nächtelange Krawalle. Der damalige Präsident François Hollande besuchte Théo am Krankenbett, um die Stimmung zu besänftigen.

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Der Polizist, gegen den wegen Vergewaltigung ermittelt wird, sagte laut französischen Medien, Théo habe sich der Kontrolle widersetzt, getreten und geschlagen. Er selbst habe nur reagiert. Den Riss im Schließmuskel könne er sich nicht erklären.

Seit Jahren weisen Studien darauf hin, dass das Verhalten vieler Polizisten die Spannungen in Brennpunktvierteln verschlimmert. Als besonders diskriminierend gelten dabei die häufigen Personenkontrollen. Im Januar ergab eine Umfrage des nationalen Beauftragten für Menschenrechte , dass die Polizei arabisch aussehende und dunkelhäutige Jugendliche 20-mal häufiger kontrolliere. 2009  und 2012  waren andere Studien zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.

Gleise zertrennen Aulnay-sous-bois

In Aulnay-sous-bois tritt die soziale Segregation besonders deutlich hervor. Bahngleise teilen die Stadt in zwei Hälften: Der Norden hat den Ruf einer No-go-Zone, in der der Drogenhandel floriert. Den Süden zieren Platanenalleen und Sandsteinvillen aus der Zeit, als die Stadt noch ein Luftkurort für Pariser war.

Blogger Hervé Suaudeau im Süden von Aulnay-sous-bois

Blogger Hervé Suaudeau im Süden von Aulnay-sous-bois

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IT-Spezialist Hervé Suaudeau, der seit zehn Jahren für das lokale Blog MonAulnay.com  schreibt, wohnt im Zentrum. Sein Aussehen erweckt selten die Aufmerksamkeit der Polizei: "Ich wurde erst einmal angehalten", sagt er. "Manchen meiner Freunde passiert das ständig. Die Polizisten duzen sie, ich werde gesiezt - als lebten wir in verschiedenen Welten."

Im Norden der Stadt berichten viele Jugendliche, dass Polizisten ihnen gegenüber ruppig gewesen seien - oder Schlimmeres. Ihm habe vor vier Jahren ein Polizist die Nase gebrochen, sagt der 18-jährige Karim. "Sie kamen angelaufen, legten mir Handschellen an und schlugen auf mich ein." Dabei habe er nur seine prügelnden Cousins trennen wollen.

"Früher kannten die Polizisten uns"

Doch das ist nur die eine Perspektive. Polizistin Anissa Bosse schiebt in einem Pariser Bezirk Nachtschichten - und hatte zunächst im Dienst oft Angst. Etwa einmal in der Woche fühlt sie sich nachts angepöbelt oder belästigt. Die 32-Jährige wuchs selbst in einer sozial schwierigen Gegend nordwestlich von Paris auf. Freunde fragten anfangs, warum sie "auf die andere Seite wechsle".

Anissa Bosse

Anissa Bosse

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Ihr Kollege Quentin Gourdin, 36, arbeitet für eine Sondereinheit, die bei Terroranschlägen gerufen wird. Anfang Oktober seien Kollegen südlich von Paris in ihrem Auto angezündet worden, als Angreifer Brandsätze auf den Streifenwagen warfen, sagt Gourdin. "Ich verstehe, dass manche Polizisten Angst haben."

Furcht auf beiden Seiten erschwert eine Annäherung - auch wenn der Wille da ist: In Aulnay-sous-bois erinnern sich viele fast wehmütig an die Neunzigerjahre, als es noch eine Nachbarschaftspolizei gab. "Die Polizisten kannten uns", sagt Bilel, dessen Bruder in einem Keller starb. "Sie waren cooler drauf."

Doch Unruhen, Drogenhandel und Kriminalität konnten auch sie nicht unterbinden. 2003 schaffte der konservative Innenminister und spätere Präsident Nicolas Sarkozy die bürgernahen Streifen ab.

Ein Star in seinem Viertel

Hadama Traoré, 32, will Bewohner und Beamte wieder versöhnen. Er ist in Aulnay-sous-bois geboren und war früher Rapproduzent. Im Januar gründete er die Bewegung "La révolution est en marche". "Ich will, dass meine kleinen Töchter irgendwann wie Französinnen respektiert werden", sagt Traoré. Seine Eltern stammen aus Mali.

Hadama Traoré auf dem Wochenmarkt in seinem Viertel Rose-des-Vents

Hadama Traoré auf dem Wochenmarkt in seinem Viertel Rose-des-Vents

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Er bewegt sich wie ein Star in seinem Viertel Rose-des-Vents: klopft Schultern, verteilt Gettofäuste. "Hey, Soldat, alles klar? Die Revolution ist im Gange!", begrüßt er einen Vater mit Kind an der Hand. Autos hupen ihm zu, Menschen versammeln sich um ihn, wenn er über den Wochenmarkt läuft.

Traoré kennt einen Polizisten, der bereit wäre, sich regelmäßig mit der Jugend des Viertels zu treffen. Doch Bürgermeister Bruno Beschizza habe ihnen dafür keinen Ort zur Verfügung stellen wollen.

Im Video beschreibt Traoré, wie feindselig sich Polizei und Bürger in seinem Stadtteil gegenüberstehen:

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Das Rathaus hat alle Interviewanfragen des SPIEGEL abgelehnt. Doch ein Brief Beschizzas an Frankreichs Innenminister  von Ende August zeigt, dass auch er sich "greifbarer Spannungen" bewusst ist. "Ein Teil der Bevölkerung" habe das Vertrauen in die Ordnungskräfte verloren, schreibt der frühere Chef einer Polizeigewerkschaft, der die Bezirkspolizei von Aulnay-sous-bois in den vergangenen Jahren massiv aufgerüstet hat. Seine Gemeinde wolle deshalb beim Polizei-"Experiment" der Regierung mitmachen.

Rathaus von Aulnay-sous-bois

Rathaus von Aulnay-sous-bois

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Wie das genau aussehen soll, ist noch offen. Nach mehreren Terroranschlägen galt zwei Jahre lang der Ausnahmezustand, der Anfang November in nationales Recht überführt wurde - und die Toleranz gegenüber Zuwanderern ist vielerorts eher gesunken.

Bereits nach dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" 2015 warnte der Politikwissenschaftler Thomas Guénolé: Das Klischee des "Jugendlichen aus der Banlieue" - eines unrasierten Arabers im Kapuzenpulli, der Haschisch rauche und Hasspredigern lausche - habe sich noch tiefer in der Gesellschaft festgesetzt.

Doch es gibt Versuche, gegen Vorurteile anzugehen, auch in der Polizei. Quentin Gourdin engagiert sich für die Organisation Raid Aventure . Sie will jungen Menschen aus Problemvierteln vermitteln, dass es auch coole Polizisten gibt, die niemandem grundlos die Arme auf den Rücken biegen.

Rund hundert Beamte machen bei Raid Aventure ehrenamtlich mit. 50 Aktionstage haben sie landesweit seit vergangenem Jahr organisiert. Jedes Mal kamen mehrere Hundert Kinder und Jugendliche, um Polizeihelme aufzusetzen, Schlagstöcke zu schwingen und Polizeigriffe zu üben.

Sehen Sie einen solchen Annäherungsversuch im Video:

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Auch in Aulnay-sous-bois veranstaltete Raid Aventure im Frühjahr einen "Tag der Annäherung". Solche Aktionen ändern jedoch wenig am Alltag in den Banlieues.

Politikwissenschaftler Guénolé forderte Anfang des Jahres,  die Personenkontrollen endlich abzuschaffen. Das Verhältnis zwischen der Jugend in den verarmten Vorstadtvierteln und der Polizei sei "verfault" und "strukturelle Reformen" seien dringend nötig.

Doch Präsident Macron plant lediglich, Beamte mit Kameras auszustatten, die die Ausweiskontrollen filmen. Ähnliches hatte schon François Hollande vor vier Jahren versprochen. ID-Checks sollten schriftlich dokumentiert werden, um Racial Profiling zu vermeiden. Ein entsprechendes Gesetz gibt es immer noch nicht.

Und selbst wenn: Die Cités wären weiterhin triste Betonsiedlungen, deren Bewohner vor allem mit dem mittleren Teil von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" wenig anfangen können. Deshalb sollten Beschäftigungsprogramme für Jugendliche ausgebaut und Sozialarbeiter finanziert werden, fordert Forscher Fabien Jobard. Seit 2003 habe die Regierung hier massiv gespart. "Ich sehe auch bei Macron keine Kehrtwende."

Anmerkung: In einer früheren Version des Textes hieß es, Nicolas Sarkozy habe 2003 als Präsident die bürgernahen Streifen abgeschafft. Zu diesem Zeitpunkt war Sarkozy allerdings Innenminister. Außerdem wurde klargestellt, dass der Ausnahmezustand Anfang November auslief.