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Deutschland NS-Prozess

Der SS-Mann, den sie „Bubi“ nannten

Johann Rehbogen - KZ Stutthof (Sztutowo) Johann Rehbogen - KZ Stutthof (Sztutowo)
Der einstige SS-Wachmann Johann R. als Kriegsgefangener der US-Armee
Quelle: -
Der 94-jährige Johann R. muss sich vor dem Landgericht Münster wegen seiner Tätigkeit im KZ Stutthof verantworten. Judy Meisel war damals 14 Jahre alt und sah unvorstellbare Grausamkeiten. Jetzt will sie ihn erkannt haben. Ein Besuch bei ihr in den USA.

Am Mittwoch, 7. Juni 2017, gegen 9 Uhr klopft es an der Tür in Appartement 301 des „Sholom“-Altenheims in Minneapolis, USA. Es ist die Wohnung von Judith Meisel, die alle nur Judy nennen, und sie weiß auch, wer sie besuchen wird: Es sind zwei deutsche Polizeibeamte in Begleitung eines FBI-Agenten.

Judy ist 89 Jahre alt, und seit Jahrzehnten erzählt sie in Schulen, Universitäten und im Holocaust-Museum, was ihr in ihrem Heimatland Litauen in den 40er-Jahren widerfahren ist. Wie zuerst die Russen in der Stadt Kaunas einfielen, dann 1941 die Deutschen, wie die Juden ins Getto gepfercht wurden, wie sie in Vernichtungslager deportiert wurden und wie sie ihre Mutter auf ihrem Weg in die Gaskammer beobachtete, diese „schönste Frau, die man sich vorstellen kann“.

Von all dem hat sie Hunderte Mal Zeugnis abgelegt, doch dass eines Tages im Jahre 2017 zwei deutsche Kriminalbeamte ihre Geschichte hören wollten, hätte sie nie für möglich gehalten. Die beiden Ermittler sammeln Material gegen Johann R., den die Dortmunder Staatsanwaltschaft kurz darauf, am 6. November 2017, wegen der Beihilfe zum Mord „in mehreren Hundert tateinheitlich zusammentreffenden Fällen“ anklagt.

Sie tippt mit dem Finger auf das Foto

Die Beamten wollen vor allem wissen, was die Frau im KZ Stutthoff bei Danzig erlebte. Dann legen sie ihr zwei Bilder der Beschuldigten vor. Judy Meisel blickt auf das Foto einer dieser jungen SS-Männer und zeigt mit dem Finger auf ihn: „Das ist das ,schöne Mädel‘!“ So nannten die Frauen im Lager den damals 20-jährigen Mann, der zu ihren Peinigern zählte. Sie tippt mit dem Finger auf Johann R.

Am Dienstag, 6. November 2018, um 9 Uhr beginnt am Landgericht Münster eines der letzten NS-Verfahren, das sich mit der Vernichtung der Juden in Europa beschäftigt. Judy Meisel nimmt am Prozess als Nebenklägerin teil, wird aber nicht nach Deutschland fliegen. Angeklagt ist Dr. Johann R., ein promovierter Landschaftsarchitekt, ehemaliger Beamter des Landes NRW, engagiert in der sudetendeutschen Landsmannschaft. Er selbst gab an, dass ihn seine Kameraden im Lager „Bubi“ nannten.

Ein NS-Prozess 73 Jahre nach Kriegsende: Das haben sich weder Judy Meisel noch Johann R., der am 21. November 95 Jahre alt wird, vorstellen können. Die vergangenen Wochen und Monate, die Zusammenarbeit mit ihrem deutschen Anwalt, Professor Cornelius Nestler, haben bei der Überlebenden viele Erinnerungen an die Oberfläche gespült.

Judy Meisel in her apartment on the morning she provided her testimony to German investigators (June, 2017). If you can include Photo credit: Ben Cohen.
Judy Meisel kurz vor dem Gespräch mit den Ermittlern
Quelle: Ben Cohen.

Wer Judy Meisels Geschichte hören will, muss zu ihr fahren, in das Altersheim am Rande der Stadt, ein schmuckloser, gelber Bau, in dem sich die Bewohner in gebückter Haltung an ihren Rollatoren festhalten und einander freundlich grüßen. Alle kennen Judy hier, die vorher 44 Jahre in Santa Barbara gewohnt hatte und vor ein paar Jahren nach Minneapolis zog, um nah an ihrer Familie zu sein. Ihr Sohn Michael Cohen, ein Rechtsanwalt, wohnt hier und kümmert sich um sie.

In ihrer kleinen Wohnung stehen Bilder ihrer Kinder, Enkel und Urenkel, Urkunden und Auszeichnungen für ihre Vortragstätigkeit. „Wollen Sie etwas essen? Sie haben schon gegessen, oder?“, eröffnet sie das Gespräch mit ihrem litauischen Akzent. „Ich will Ihnen alles erzählen. Aber ich kann nicht mehr so in die Details gehen, es ist furchtbar, verstehen Sie?“

Sie fängt an, von ihrer Kindheit im Städtchen Josvainiai zu erzählen. Sie wächst in einer religiösen jüdischen Familie auf, der Vater Osses arbeitet als Holzkaufmann, ihre Mutter Mina Beker kümmert sich um die drei Kinder. Der Vater stirbt an einem Herzinfarkt, als Judy acht Jahre alt ist. Von da an muss die Mutter ihre Kinder selbst durchbringen, die Großfamilie mit 144 Cousins und Cousinen hilft ihr dabei.

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Die Familie zieht nach Kaunas, als 1940 die Russen dort einmarschieren. „Jüdisches Leben konnte nur noch im Untergrund stattfinden, in der Schule mussten wir unser Judentum verbergen“, erinnert sie sich. Mit dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion besetzte die Wehrmacht 1941 auch Litauen. Und in ihrem Gefolge kamen die Killerkommandos der SS in die Städte, die Einsatzgruppen. In den ersten Wochen erschossen sie bereits Tausende Juden. „Jemand erzählte, dass die Deutschen in Polen alle Juden umbringen würden. Aber wir haben das nicht geglaubt, das war doch für uns ein zivilisiertes Volk“, sagt Judy Meisel.

Judy Meisel
Judy Meisel im Mädchenalter
Quelle: Judy Meisel

Die Angehörigen dieses Volkes zwingen die Bewohner, in ein Getto in die Vorstadt zu ziehen, das die Bewohner Slabodka nennen. Ab August 1941 teilt sich die vierköpfige Familie Beker dort eine Wohnung mit drei weiteren Familien. In den ersten Monaten töten die Deutschen bereits 12.000 Menschen im Getto. „Ständig sah ich, wie jemand zusammengeschlagen oder totgeprügelt wurde. Der Tod war allgegenwärtig in Slabodka. Ich konnte nicht glauben, was ich sah, ich war ja erst elf Jahre alt.“

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Die Deutschen zwingen das Mädchen zur Sklavenarbeit in einer Rüstungsfabrik. Die Verpflegung reicht nicht. Weil das Mädchen blonde Haare und blaue Augen hat, wird es ausgewählt, um Lebensmittel ins Getto zu schmuggeln. Kartoffeln, Brot, Gemüse – alles bringt sie unter Lebensgefahr nach Slabodka. „Wir haben einander geholfen, das war das einzig Gute an diesem Ort.“

Als die Rote Armee näher rückt, lösen die Deutschen das Getto auf. Die Juden, so ihr Plan, sollen sterben. Entweder in einer Gaskammer in einem Vernichtungslager oder an Entkräftung bei der Zwangsarbeit. Minas Sohn Bruder Abe muss nach Dachau; er überlebt den Holocaust. Judy, ihre Schwester Rachel und ihre Mutter landen zuerst in Auschwitz. Viele Getto-Bewohner sterben dort den qualvollen Tod in der Gaskammer. Wer als „arbeitsfähig“ selektiert wird, den pferchen die SS-Männer nach wenigen Tagen wieder in einen Güterzug und verfrachten ihn in ein anderes Lager, das weiter im Westen liegt. Nach ein paar Tagen kommen die Bekers in Stutthof an.

Judy Meisel überlebt das KZ Stutthoff. SS-Wachmann Johann R. macht in Deutschland später Karriere
Judy Meisel und ihre Schwester Rachel überlebten beide das KZ Stutthof
Quelle: Judy Meisel

„Es war schlimmer als im Getto, es ging jetzt nur noch ums nackte Überleben“, sagt Judy Meisel. Bei der Ankunft reißen ihr SS-Männer dem Mädchen die Haare aus, sie blutet am ganzen Kopf. Ein Mann bricht die goldenen Kronen aus dem Gebiss ihrer Mutter, das Blut läuft ihr aus dem Mund. „So standen wir nebeneinander, blutverschmiert, gedemütigt und zu Tode verängstigt“, sagt Judy.

Stundenlang müssen die Gefangenen bei Appellen stehen. Ihr Leben zählt nichts. Die SS-Männer schwingen sich zu Herren über Leben und Tod auf, nehmen sich das Recht, zu foltern, zu schlagen und zu morden. „Sie haben mir alle Fingernägel herausgerissen. Es hat Jahre gedauert, bis sie wieder da waren“, sagt Judy. Sie sieht, wie die Deutschen Babys mit dem Kopf an die Wand schlagen, bis sie tot sind. Sie sieht, wie ihre eigene Mutter in die Gaskammer geführt wird, am 21. November 1944, kurz bevor die Rote Armee das Lager befreit.

An diesem Tag steht sie in einer Linie mit den Frauen, die ermordet werden sollen. Doch plötzlich ruft sie ein Wachmann, sie soll in die Baracke gehen. Judy rennt los – und entgeht dem Tod.

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An diesem Tag sieht sie ihre Mutter zum letzten Mal. „Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe“, sagt Judy.

Die SS räumt das Lager am 25. Januar 1945, der Krieg ist verloren, die Russen stürmen Richtung Berlin. Den beiden Schwestern gelingt es, sich bei einem Bombenangriff zu verstecken und zu fliehen. Zuerst hilft ihnen ein russischer Kriegsgefangener, dann landen sie für kurze Zeit in einem Kloster, bis sie schließlich für wenige Wochen bei einer deutschen Familie unterschlüpfen. Die ganze Zeit über geben sie sich als katholische Litauerinnen aus.

Im Mai 45 enthüllen sie ihre Identität

Sie fliehen im April ins immer noch besetzte Dänemark, wo Judy und Rachel in einer Notunterkunft leben. Erst mit der Befreiung im Mai 1945 enthüllen sie ihre wahre Identität. Niemand wollte ihnen glauben, dass sie den Holocaust überlebt hatten. „Ich musste meinen Namen auf Hebräisch schreiben, um zu beweisen, dass ich Jüdin bin“, sagt Judy.

ARCHIV - 19.10.2015, Polen, Sztutowo: Besucher gehen am Eingang des Stutthof Museums in Sztutowo (Polen) vorbei, in dem an die Verbrechen im ehemaligen Konzentrationslager Stutthof erinnert wird. Nur unter starken Einschränkungen kann das Landgericht in Münster gegen zwei ehemalige SS-Wachmänner verhandeln, denen Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird. Gutachter seien zu dem Ergebnis gekommen, dass die beiden inzwischen 94 und 93 Jahre alten Männer aus dem Kreis Borken und aus Wuppertal körperlich und psychisch nur eingeschränkt verhandlungsfähig seien, teilte das Gericht am Freitag mit. Foto: Piotr Wittman/PAP/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ |
Das ehemalige KZ Stutthof bei Danzig
Quelle: picture alliance / PAP

Ein dänisches Ehepaar, Paula und Svend Jensen, nimmt sich der beiden Schwestern an, sie leben zwei Jahre in Kopenhagen. Dann zieht es sie nach Toronto, wo sie ihren Bruder Abe wiedertreffen. Judy, inzwischen verheiratet, lässt sich schließlich in Philadelphia nieder. Sie bekommt drei Kinder – und engagiert sich ab 1963 in der Bürgerrechtsbewegung, lernt Martin Luther King kennen und fängt an, öffentlich über ihre Erfahrungen als Holocaustüberlebende zu sprechen.

„Es darf sich nicht wiederholen, Hass und Angst dürfen die Menschen nie wieder so vergiften“, sagt sie heute. „Daher möchte ich erzählen. Um die junge Generation zu warnen.“ Erst am 27. Oktober erschoss ein Attentäter elf betende Juden in der „Tree of life“-Synagoge in Pittsburgh – der Synagoge, in der Judys Sohn Michael seine Frau Soni heiratete. „Wir sind sehr traurig und besorgt“, sagt Michael Cohen über dieses Echo des Judenhasses, der so viele Menschen aus seiner Familie vernichtete.

Ein anderer dagegen, er sagt nichts. Jener Mann, der möglicherweise „das schöne Mädel“ war. Den seine SS-Kameraden „Bubi“ nannten. Johann R. hat zu keinem Zeitpunkt gegenüber Behörden erhellende Angaben gemacht. Von September 1942 bis September 1944 war er im KZ Stutthof eingesetzt, aber gesehen oder mitbekommen habe er nichts.

Schon 1974, mit 51 Jahren, behauptete er in einer Zeugenaussage beim LKA, „nie persönlich Zeuge von Tötungshandlungen“ gewesen zu sein. Die Häftlinge, die vor seinen Augen vor Hunger verreckten, an Krankheiten zugrunde gingen oder schlicht erschossen wurden, seien aber „nicht gerade schonend behandelt“ worden. Das will der Mann in der SS-Uniform damals als „schockierend“ empfunden haben.

Nebenklagevertreter Cornelius Nestler sieht die Sache anders. „Wer zur Lagermannschaft in einem Vernichtungslager gehört, hat zum Massenmord Beihilfe geleistet – das war schon die Rechtsprechung in den 60er-Jahren“, so der Jurist zu WELT. „Dass die großen Konzentrationslager, zu denen auch das KZ Stutthof gehörte, spätestens ab Herbst 1944 auch dem Massenmord vor allem an den Juden dienten, war den Historikern immer schon bekannt und wurde auch von den Strafgerichten der Alliierten in den Jahren nach 1945 so gesehen.“

Nun sei es fast zu spät: „Die bundesdeutsche Justiz hat das bis zur Anklage im Stutthof-Verfahren ignoriert. Jetzt wird es endlich richtig gemacht, aber viel zu spät: Die Überlebenden sind mittlerweile meist zu alt, um noch als Nebenkläger zu erscheinen.“

Als die LKA-Beamten Johann R. im August 2017 vernahmen, konfrontierten sie ihn mit Aussagen anderer ehemaliger SS-Angehöriger über Gräueltaten, die während seiner Dienstzeit im Lager passierten. Vergasungen, Erschießungen, Schläge – weiß ich nicht, ist mir nicht bekannt, sagt mir nichts, wiederholte er immer wieder.

An einem Punkt wollte er den Namen eines SS-Unterscharführers nennen, der für die Diensteinteilung der Wachmannschaft zuständig war. Der Name fiel ihm nicht ein, er griff zu einem Buch mit dem Titel „Das Konzentrationslager Stutthof“ von Jürgen Graf und Carlo Mattogno, wie die Beamten protokollierten.

Reichsführer SS Heinrich Himmler (M.) inspiziert 1941 Stutthoff und wird vom Führungskorps der SS-Wachmannschaften empfangen
Heinrich Himmer, der "Reichsführer-SS", inspiziert 1941 das KZ Stutthof
Quelle: picture-alliance/akg-images

Was die Beamten damals nicht wussten: Graf ist ein Holocaust-Leugner aus der Schweiz, der einschlägige Bücher geschrieben hat, mehrfach verurteilt wurde und in Russland lebt. Johann R., ein Mittäter des Holocausts, suchte offenbar seine Rolle im Verhör kleinzureden, in dem er ausgerechnet das Buch eine Holocaust-Leugners zu Hilfe nahm.

„Warum waren die Häftlinge so abgemagert?“, fragten die Beamten Johann R. bei ihrem Besuch. Dieser antwortete darauf nur: „Sie hätten mal sehen sollen, wie die Wachmänner ausgesehen haben. Die Nahrung war knapp und wir haben zu zweit in eine Uniform gepasst.“

Insgesamt ermordeten die Deutschen allein in Stutthof mehr als 41.500 Menschen.

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