Ein optimistischer Kulturpessimist: Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger ist im Alter von 93 Jahren gestorben

Er gehörte zu den bedeutendsten deutschen Intellektuellen und war ein Aufklärer und Moralist, der nicht moralisierte. Als kritischer Denker hatte Enzensberger zwar stets die Katastrophe vor Augen, aber er sass vor ihr nicht wie das Kaninchen vor der Schlange, vielmehr blieb er Optimist.

Paul Jandl
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«Ich bin keiner von uns.» Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1989 in seiner Münchner Wohnung.

«Ich bin keiner von uns.» Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1989 in seiner Münchner Wohnung.

Isolde Ohlbaum

Vielleicht soll man ihn so in Erinnerung behalten wie den «Fliegenden Robert» in einem seiner berühmtesten Gedichte: «Spanne den Regenschirm auf / und erhebe mich in die Lüfte. / Von euch aus gesehen, / werde ich immer kleiner und kleiner, / bis ich verschwunden bin. / Ich hinterlasse nichts weiter / als eine Legende . . .» Den Regenschirm hat dieser Fliegende Robert namens Hans Magnus Enzensberger aufgespannt, weil in seinem Deutschland immer «Sauwetter» herrschte. Es hat ihn dahin und dorthin getragen. Er war ein Luftikus, mit dem ideologisch kein Staat zu machen war, ein kämpferischer und doch friedfertiger Gewährsmann nur seiner selbst.

Im Februar 1957, als er gerade einmal siebenundzwanzig Jahre alt war, hat Hans Magnus Enzensberger jene essayistische Grosstat vollbracht, für die er auf einen Schlag berühmt wurde. Und berüchtigt. Fürs Radio entstand der Text «Die Sprache des SPIEGEL», die sich kritisch mit dem meinungsstarken Überrumpelungsjournalismus von Deutschlands wichtigstem Nachrichtenmagazin auseinandersetzte.

Die Marotten des «Spiegel», seine Art, aus Information effekthaschende Kolportage zu machen, hat der damals noch junge Mann nach Strich und Faden zerlegt. Und schon dieser frühe Text hat ein Element in sich, auf das Enzensberger auch später nie verzichtete: Die Kritik war auch Selbstkritik. Wenn Deutschland so ein Magazin wie den «Spiegel» hat, dann wohl deshalb, weil es das wollte. Niemals hat sich dieser Autor persönlich aus der Kritik ausgenommen. Er war keiner der Intellektuellen à la Günter Grass, die sich aus der Moral ein Podest der Selbsterhöhung gezimmert haben.

Frühe Ernüchterungen

Enzensberger hat dem eigenen Irrtum stets ins Auge gesehen, um daraus zu lernen und sich neu zu erfinden. Dass nach der Ausstrahlung seines Essays «Spiegel»-Herausgeber Rudolf Augstein kam, weil er den Text in seinem Magazin drucken wollte und den jungen Schriftsteller auch noch zum redaktionellen Mitarbeiter machte, passt in diese Geschichte. Der Mythos Enzensberger war geboren, und plötzlich durfte da einer schreiben, wie und was er wollte. Anders wäre es auch nicht gegangen.

Die Lakonie der Lyrik, die mit dem Band «verteidigung der wölfe» schon 1957 in aller Vollkommenheit da war, ging in den spielerischen Ernst der Essays über. «Einzelheiten» hiess der Sammelband, der vom Tausendsten ins Hundertste kam und damit noch präzise genug blieb. Aus den Einzelheiten seiner Beobachtungen hat Hans Magnus Enzensberger aufs grosse Ganze geschlossen, niemals umgekehrt: «Wer allzu rasch und allzu gern aufs Allgemeine zu sprechen kommt, ist immer verdächtig, den Widerstand des Besonderen und Konkreten zu scheuen.»

Der 1929 im bayrischen Kaufbeuren Geborene war kein Ideologe, auch wenn er als Linker begonnen hatte. Schon in den sechziger Jahren, zu Zeiten der sogenannten «Ausserparlamentarischen Opposition», kurz APO genannt, war ihm das Dogmatische fremd, und er hat sich darüber lustig gemacht: «Der ganz echte Revolutionär / steht irgendwo ganz weit links von Mao / vor der Fernsehkamera.»

Enzensberger hat sich im real existierenden Sozialismus Kubas umgesehen und ist ernüchtert zurückgekommen. Wie die Massen dirigiert werden, hat ihn im eigenen Land nicht weniger interessiert. Den Machenschaften und Tücken der «Bewusstseins-Industrie» war er auf der Spur. Da hat er auch schon einmal den «Neckermann»-Katalog unter die Lupe genommen. Und natürlich nahm er auch das Mediengetümmel aufs Korn, das ihn zugleich faszinierte, von dem er sich aber nicht selbst korrumpieren lassen wollte.

«Ich bin keiner von uns» hiess die Formel, auf die Enzensberger sich selbst bringen wollte. Darüber hinaus waren seine autobiografischen Auskünfte spärlich. Das Buch «Eine Handvoll Anekdoten» nennt der Schriftsteller ein «Opus incertum», weil es zwar um Erinnerungen an die Kindheit und Jugend geht, aber sich im Aufschreiben die Gewissheiten nicht vergrössert haben. «Ich habe das meiste vergessen und das Wichtigste nicht verstanden», heisst es da.

Den «Freuden der Inkonsequenz» hat sich der Autor eher hingegeben als der ordentlichen Buchhaltung, aber genau das hat zu einem Werk geführt, das vielseitiger kaum sein könnte. Was die «Einzelheiten» essayistisch waren, waren im Lyrischen die Bände «landessprache», «blindenschrift», «Die Furie des Verschwindens» und das Versepos «Der Untergang der Titanic». Das von Enzensberger herausgegebene «Museum der Modernen Poesie» war 1960 die weit offene Tür in die Weltsprachen der Literatur. Die «Andere Bibliothek», die die Leser mit schön gemachten Büchern auf neue Gedanken bringen sollte, indem sie unbekannte Preziosen brachte, hat der Schriftsteller mitbegründet.

Optimistischer Kulturpessimist

Es war in diesem langen Leben stets ein Zickzack des Tuns und Denkens, das vom Kulturbetrieb aber beharrlich belohnt wurde. Schon als 33-Jähriger hat Enzensberger den Büchner-Preis bekommen. Auch denen zum Trotz, die seine Vielseitigkeit schmähten, die ihn als «Bucharin und Lord Byron» in einem bezeichneten, als einen «Naseweis und professionalen Zeterer».

Der Untergang der Titanic ist bei Hans Magnus Enzensberger eine Komödie, und das wohl nicht ohne Grund. Dieser Dichter hatte immer die Katastrophe vor Augen, aber er sass vor ihr nicht wie das Kaninchen vor der Schlange, sondern mit faszinierter Konzentration. Das Spezielle dieser Art von Kulturpessimismus lag darin, dass er am Ende optimistisch blieb. Dass er hoffte, die Vorläufigkeit der Gedanken könne mit der Vorläufigkeit der Katastrophen Schritt halten.

Der «historischen List des Bewusstseins» wollte Hans Magnus Enzensberger mit seinem Schreiben zu Hilfe eilen. Manchmal hat er sich dabei auch ordentlich vergaloppiert, aber sollte der Meister der literarischen Luftspiegelungen nicht auch Täuschungen erliegen? Oder Selbsttäuschungen?

Ans Ende seines Buches «Eine Handvoll Anekdoten auch Opus incertum» setzt dieser sehr undeutsche deutsche Dichter ein Bekenntnis: «Wenn er über sich selber schreibt, / schreibt er über einen andern. / In dem, was er schreibt, / ist er verschwunden.» Letzteres ist vielleicht eine Hoffnung der Bescheidenheit. So schnell wird dieser Fliegende Robert nicht kleiner und kleiner werden. Auch jetzt nicht, wo Hans Magnus Enzensberger am Donnerstag im Alter von 93 Jahren in München gestorben ist.

Ein Intellektueller mit grossem Lebenswerk

rbl. · Hans Magnus Enzensberger ist am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und in Nürnberg aufgewachsen. 1945 wurde er noch in den letzten Kriegstagen in den Volkssturm eingezogen. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie u. a. in Erlangen und an der Sorbonne in Paris. Bis 1957 arbeitete er als Redaktor beim Süddeutschen Rundfunk, danach wurde er freier Schriftsteller. 1960 war er vorübergehend Lektor beim Suhrkamp-Verlag. Seine publizistische Tätigkeit und die vielfältigen öffentlichen Interventionen machten ihn zu einem der bedeutendsten Intellektuellen der Bundesrepublik. Von 1965 bis 1975 gab er die Zeitschrift «Kursbuch» heraus, die ab 1968 zum ikonischen Organ des linken politischen Diskurses wurde.

Zu Enzensbergers wichtigsten Werken zählen der erste Gedichtband «verteidigung der wölfe» (1957) oder der Essayband «Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer», in dem er 2006 den islamistischen Terror untersucht. Ausserdem hat er Bücher für Kinder geschrieben und zahlreiche Werke aus dem Spanischen, Englischen und Französischen übersetzt. 2018 erschien sein Briefwechsel mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.

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