Kein einziger deutscher Historiker forscht derzeit über den Aufstand im Warschauer Ghetto: Eine internationale Tagung in Leipzig eröffnete Perspektiven jenseits der Tätersicht.
Von René Schlott
Ein Feuerwehrmann als „bystander“: Zbigniew Leszek Grzywaczewski fotografierte nach der Niederschlagung des Aufstands den Abtransport der Ghettobewohner.POLIN Museum of the History of Polish Jews
Es ist ungewöhnlich, dass auf dem Programm einer wissenschaftlichen Tagung ein abendliches Konzert steht. Aber es war ein ausdrückliches Anliegen des Organisationstrios aus Tom Navon, Jan Gerber und Lukas Böckmann vom Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, bei der Leipziger Konferenz aus Anlass des achtzigsten Jahrestages des Warschauer Ghettoaufstands akademische Forschung und öffentliches Gedenken zu verbinden – und das Vorhaben ging auf. Das von Mitgliedern des Universitätsorchesters konzipierte und gestaltete Gedenkkonzert zog jedenfalls viel mehr Interessierte an, als der Saal im Musikinstrumentenmuseum fassen konnte. Auf dem Konzertprogramm standen mit Marcel Tyberg, Ignatz Waghalter und Pavel Haas weithin unbekannte Namen jüdischer Komponisten, die nationalsozialistische Verfolgung erlitten.
Ebenso unbekannt sind bislang die Namen der meisten der Referenten auf der Leipziger Tagung, die eben nicht auf die großen etablierten deutschen Historikergrößen zurückgriff, um sich wissenschaftlich mit zahlreichen Aspekten und verschiedenen Akteuren des Warschauer Ghettoaufstands und seiner Erinnerungsgeschichte zu beschäftigen, sondern auf eine kluge Zusammenstellung internationaler Wissenschaftler setzte, vor allem aus Israel, Polen, den Vereinigten Staaten und Frankreich. Die deshalb zum allergrößten Teil englischsprachige, jedoch simultan ins Deutsche übersetzte und im Netz gestreamte Tagung zeigte dergestalt schon in ihrem ambitionierten Programm eine große Leerstelle auf, die auch im Verlauf der Konferenztage immer offener zutage trat.
Die intensive Medienberichterstattung der letzten Tage mag einen anderen Eindruck erweckt haben, aber trotz des hohen Stellenwerts, den die Holocaustforschung auch in der Bundesrepublik inzwischen hat, beschäftigt sich derzeit nicht ein einziger deutscher Wissenschaftler mit dem Warschauer Ghettoaufstand. Die letzte Tagung zum Aufstand in der Bundesrepublik liegt vierzig Jahre zurück. Das 1994 von dem israelischen Forscher Israel Gutman vorgelegte Standardwerk zu dem Thema ist bis heute nicht auf Deutsch erschienen. Und auch zum jetzigen Jahrestag erschien nicht ein einziges Buch in Deutschland, das sich mit dem Aufstand auseinandersetzt, wo doch sonst jedes historische Jubiläum inzwischen verlagsökonomisch genutzt wird.
Diskussion um Straßenumbenennung
Doch in der deutschen Erinnerungskultur wird der Warschauer Ghettoaufstand von anderen Ereignissen vollständig überlagert, wie der Mitorganisator Jan Gerber gleich in seinem Eröffnungsvortrag deutlich machte. Hierzulande wird weniger der Aufstand als die Kniefallgeste von Kanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal für den Aufstand im Dezember 1970 erinnert, wobei sich diese Erinnerung lange Zeit nur auf die alte Bundesrepublik bezog, weil die Geste Brandts in der DDR weitgehend verschwiegen wurde – ebenso wie in der Volksrepublik Polen, aus denselben ideologischen Gründen.
Das schon am fünften Jahrestag des Ghettoaufstands enthüllte ikonische Mahnmal des polnisch-jüdischen Bildhauer Nathan Rappaport nimmt in der polnischen Erinnerungskultur einen festen Platz ein, wenngleich in der Erinnerungspolitik Polens über alle Systemwechsel der letzten Jahrzehnte hinweg der Warschauer Ghettoaufstand 1943 stets mit dem Warschauer Aufstand 1944 konkurrierte – und bis heute konkurriert oder gleich vereinnahmt wird. Bei der Tagung fiel mehrfach das Schlagwort von der „Polonisierung“ des Gedenkens.
Agnieszka Haska vom Polnischen Holocaustforschungszentrum Warschau referierte darüber, wie sich die umkämpfte Erinnerung an den Aufstand bis heute in die Topographie der polnischen Hauptstadt einschreibt. Haska zeigte Bilder von kürzlich bei Bauarbeiten freigelegten Fundamenten des zerstörten Ghettos und berichtete von laufenden Diskussionen um die Umbenennung einer Warschauer Straße, die künftig den Namen von Rachel Auerbach tragen soll, einer jüdischen Überlebenden und Mitarbeiterin des geheimen Ghetto-Untergrundarchivs Oneg Shabbat.
Radikale Dekonstruktion
Zwischenzeitlich fragte man sich, ob nicht Leipzig, sondern Warschau selbst der adäquate Ort für diese Konferenz gewesen wäre. Doch der Mitorganisator Tom Navon hatte schon im Vorfeld der Tagung in einem lesenswerten Beitrag im Doktorandenblog „Mimeo“ des Dubnow-Instituts auf das Schicksal von Adolf Hochberg aufmerksam gemacht, der in Berichten über den Aufstand als „Adolf aus Leipzig“ firmierte, obwohl Hochberg 1921 in Köln geboren wurde. Hochberg kam aber aus Leipzig, wo er sich in der Zwischenkriegszeit vermutlich einer jüdischen Jugendorganisation angeschlossen hatte, nach Warschau. Im Ghetto beteiligte er sich als einziger Jude mit deutschen Wurzeln am Aufstand, in dem er schließlich mit 22 Jahren umkam.
Daneben gab es noch einen weiteren interessanten Bezugspunkt des Tagungsortes zum Ort des Gegenstandes der Konferenz, auf den Andrzej Żbikowski vom Jüdischen Historischen Institut Warschau die Konferenzteilnehmer hinwies: Im Juli 1969 wurde der frühere SS-Mann Josef Blösche, dessen Mitwirken an der Niederschlagung des Aufstandes unter anderem durch das berühmte Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto belegt ist, in Leipzig wegen seiner Beteiligung an der Deportation der Warschauer Juden hingerichtet.
Die radikale Dekonstruktion der ikonisch gewordenen Fotos aus dem sogenannten Stroop-Album, mit dem der gleichnamige SS-Kommandeur die völlige Zerstörung des Ghettos als siegreichen Kampf dokumentieren wollte, durch Christoph Kreutzmüller und Tal Bruttmann löste die kontroversesten Diskussionen auf der Tagung aus, weil sie offenbar die gewohnten Sichtweisen zu sehr infrage stellten. Die beiden argumentierten schlüssig, dass keines der Fotos den eigentlichen Aufstand zeige, und plädierten für ein „close reading“ aller Aufnahmen aus dem Album und für einen Perspektivwechsel in deren Betrachtung. Denn erst beim genauen Hinsehen erkennt man auf dem oben genannten Foto mit dem Jungen auch ein jüngeres Mädchen, das dem Fotografen die Zunge ausstreckt. Zudem ist auf einigen Fotos zu sehen, dass Stroop sich für „Kampfszenen“ außerhalb des Ghettos ablichten ließ, dort, wo gar nicht gekämpft wurde. Die meisten Fotos zeigen zudem keine jüdischen Kämpfer, sondern Zivilisten, die sich in Bunkern versteckt hielten. Nur auf einer einzigen Fotografie lassen sich zweifelsfrei drei gefangene Frauen namentlich als Kämpferinnen identifizieren.
Quellen der Umstehenden erst nehmen
Auf skeptische Nachfragen stieß auch die Idee von Markus Roth vom Frankfurter Fritz-Bauer-Institut, der in seinem Vortrag zum vielfältigen Theaterleben im Warschauer Ghetto vorschlug, die kulturelle Selbstbehauptung neben dem bewaffneten Widerstand, dem Widerstand durch Entziehen (Flucht/Verstecken) und dem Widerstand durch Dokumentieren als eine von vier Dimensionen des Widerstands zu betrachten. Die originellsten Forschungsimpulse wurden auf der Konferenz von jüngeren Wissenschaftlern gesetzt, etwa von Havi Dreifuss mit ihrem Beitrag zur bislang fast völlig übersehenen Rolle der mehr als 40.000 im Ghetto verbliebenen jüdischen Zivilisten während der Kämpfe oder von Tom Navon, der den Aufstand in seinem Vortrag zur Rolle der linken jüdischen Jugendorganisationen treffend als „a Jewish socialist grassroots revolt“ charakterisierte, sodass die Tagung in historiographiegeschichtlicher Hinsicht einen Generationswechsel in der Holocaustforschung manifestierte.
Zudem setzte sich der Forschungstrend fort, nicht länger die Dokumente der Täter in den Fokus des Forschungsinteresses zu stellen, sondern die Zeugnisse der Verfolgten und die Quellen der „bystanders“ ernst zu nehmen. Kurz vor der Konferenz etwa wurden die bislang unbekannten Fotoaufnahmen des polnischen Feuerwehrmannes Leszek Grzywaczewski veröffentlicht, die erstmals einen Blick auf den Aufstand jenseits der triumphierenden deutschen Täterbilder ermöglichen. Auf der Tagung wurden sie immer wieder als Referenz herangezogen.
Trotz eines Vortrages zur kaum bekannten Bermuda-Konferenz, bei der die Vereinigten Staaten und Großbritannien auf der Atlantikinsel exakt zum Zeitpunkt des Aufstandes über das Schicksal von gut 45.000 jüdischen Flüchtlingen außerhalb des deutschen Einflussbereiches in Europa berieten, war die internationale Reaktion auf das Geschehen im Warschauer Ghetto auf der Konferenz leider kein Thema. Dabei weiß man aus Quellen, dass die Aufständischen zu Beginn der Kämpfe die Entsendung einer vom Internationalen Roten Kreuz angeführten Untersuchungskommission verlangten und noch am 28. April 1943 eine sofortige militärische Unterstützung durch die Alliierten forderten.
Die Ambivalenz von Vergessen und Erinnern
Auch am Ende der Konferenz stand mit einer kommentierten Lesung aus Hanna Kralls „Dem Herrgott zuvorkommen“ ein außergewöhnlicher Programmpunkt. Die Schauspielerin Maria Schrader las mit großer Empathie aus dem 1979 erstmals aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzten Buch, das in der Form einer literarischen Reportage ein Gespräch der Autorin mit Marek Edelman wiedergibt, einem der Kommandanten des Ghettoaufstandes und einem der wenigen überlebenden Kämpfer. Die Literaturwissenschaftlerinnen Anna Artwińska und Barbara Breysach führten kenntnisreich in dieses sperrige, etwas unzugängliche Werk ein und legten viele seiner Bedeutungsschichten offen, in denen es weniger um die „Fakten“ zum Aufstand als vielmehr um die Ambivalenz von Vergessen und Erinnern geht.
Vor allem aber entzieht sich das Werk Kralls jeder Heroisierung des Geschehens, was den Stil des Buches mit dem Ton der Tagung verband. „Ja, das war der chronologische Ablauf der Ereignisse. Der historische Ablauf ist, wie sich zeigt, nicht mehr als eine Reihenfolge des Sterbens.“ Auch wenn drei Tage intensiver und anregender Debatten mit dem Zitat dieser beiden eindrucksvollen Sätze aus Kralls Buch endeten, zeigte die Konferenz vielfältige Perspektiven auf den Ghettoaufstand auf, die weit über eine bloße Chronologie des Sterbens hinausgingen.
Ein Feuerwehrmann als „bystander“: Zbigniew Leszek Grzywaczewski fotografierte nach der Niederschlagung des Aufstands den Abtransport der Ghettobewohner.
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