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Leben unter den Taliban »Viele Frauen werden im Grunde dem Tod überlassen«

Die Taliban wollen Frauen in Afghanistan unsichtbar machen. Eine Gruppe Journalistinnen wehrt sich dagegen: Sie haben ein Onlinemagazin gegründet und berichten über den Alltag in dem Land – trotz ständiger Bedrohungen.
Ein Interview von Maria Stöhr
Eine Gruppe Frauen Ende Oktober in Ghazni, südwestlich von Kabul: »Den Frauen haben die Taliban alles genommen«, sagt die Journalistin Zahra Nader

Eine Gruppe Frauen Ende Oktober in Ghazni, südwestlich von Kabul: »Den Frauen haben die Taliban alles genommen«, sagt die Journalistin Zahra Nader

Foto: Mohammed Fausal Naweed / AFP
Globale Gesellschaft

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Als die Taliban in den Neunzigerjahren das erste Mal in Afghanistan an die Macht kamen, war die Journalistin Zahra Nader noch ein Kind. Ihre Familie entstammt der verfolgten Minderheit der Hazara und musste damals nach Iran fliehen, wo es für Flüchtlingsmädchen wie Nader kaum Zugang zu Schulbildung gab. Sie sagt, ihr größter Wunsch sei es in dieser Zeit gewesen, etwas zu lernen. Erst nach dem Ende der Talibanregierung kehrte die Familie 2001 in die Heimat zurück, und Nader konnte zum ersten Mal zur Schule gehen.

Zwanzig Jahre später, im August 2021, haben die Taliban erneut die Macht im Land übernommen. Zahra Nader lebte da bereits in Kanada, um zu studieren. Doch was in ihrer Heimat seitdem geschehen ist, wie sich das Leben von Frauen vor Ort verändert hat, beschäftigt sie ständig. Sie sieht, wie Mädchen wieder vom Lernen abgehalten werden und Frauen von der Teilnahme am öffentlichen Leben.

Zahra Nader will dieser Unsichtbarmachung etwas entgegensetzen: Sie gründete im August 2022 das Onlinemagazin »ZanTimes«, um den mehr als 15 Millionen Mädchen und Frauen im Land eine Stimme zu geben. Afghanische Journalistinnen berichten über den Alltag der Frauen im Land, über Armut, Kinderehen und Gesundheitsversorgung. Die Berichte erscheinen in Farsi und Englisch, die Leserinnen und Leser stammen hauptsächlich aus Afghanistan – und aus den USA, Großbritannien und Deutschland. Denn dort lebt inzwischen ein großer Teil der Geflüchteten.

SPIEGEL: Frau Nader, wie geht es Frauen in Afghanistan im Moment?

Nader: Millionen Mädchen und Frauen werden seit der Machtübernahme der Taliban systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Mädchen dürfen nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gehen; Frauen nicht an die Universitäten. Sie sind von den meisten Berufen ausgeschlossen, nur im Gesundheitssektor oder als Grundschullehrerin dürfen sie arbeiten. In manchen Provinzen kann eine Frau ohne männliche Begleitung nicht mehr das Haus verlassen, nicht einmal zum Arzt gehen. Viele leben wie Gefangene in ihren Wohnungen. Zudem leiden viele unter Armut und Hunger, können nicht einkaufen gehen, wissen nicht, wie sie ihre Kinder versorgen sollen. Für viele Afghaninnen gilt, dass sie inzwischen psychische Problemen haben, oft Suizidgedanken . Viele Frauen werden im Grunde dem Tod überlassen.

SPIEGEL: Auch vor der Rückkehr der Taliban war das Leben in Afghanistan für Frauen hart.

Nader: Das stimmt. Aber in den 20 Jahren davor hat es Hoffnung gegeben. Es sind Dinge besser geworden, langsam, aber stetig. Mütter arbeiteten hart, um ihren Töchtern Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Viele Frauen haben ihr eigenes Geld verdient, was ihnen Unabhängigkeit verschafft hat. Aber nun haben sie überhaupt keine Macht mehr über ihr Leben, das System der Taliban hat ihnen alle Handlungsfreiheit genommen. Das wird für viele Generationen Folgen haben.

SPIEGEL: Was passiert mit Frauen, die sich nicht an die Regeln der Taliban halten?

Nader: Wir kennen Berichte von Mädchen und Frauen, die allein auf der Straße waren und deshalb ins Gefängnis kamen oder zwangsverheiratet wurden. Die wenigsten Frauen würden allerdings überhaupt auf die Idee kommen, gegen die Regeln zu handeln. Dafür haben sie viel zu viel Angst.

Verhüllte Frauen in Jalalabad Ende Oktober: »Millionen Mädchen und Frauen werden seit der Machtübernahme der Taliban systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt«

Verhüllte Frauen in Jalalabad Ende Oktober: »Millionen Mädchen und Frauen werden seit der Machtübernahme der Taliban systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt«

Foto: Shafiullah Kakar / AFP

SPIEGEL: Sie haben vor einem Jahr die Website »ZanTimes « gegründet. Die Redaktion besteht hauptsächlich aus Frauen. Sie berichten vom Leben und Alltag der Frauen in Afghanistan. Wie ist das möglich trotz der vielen Repressionen?

Nader: Wir sind etwa 14 Journalistinnen, die Hälfte lebt in Afghanistan. Die Frauen schreiben unter einem Pseudonym, müssen extrem vorsichtig sein, mit wem sie über ihre journalistische Arbeit sprechen. Nicht mal ihre Familien wissen, was sie tun. Die Kolleginnen kennen sich untereinander nicht. Reporterinnen innerhalb des Landes kommunizieren nur mit denen, die im Ausland sitzen. Auch offizielle Anfragen an die Talibanregierung stellen wir nur aus dem Ausland. Die Gefahr, dass Mitarbeiterinnen in Afghanistan auffliegen könnten, ist groß. Wir müssen all diese Vorsichtsmaßnahmen treffen für den Fall, dass eine Mitarbeiterin festgenommen und unter Druck gesetzt wird.

SPIEGEL: Was motiviert die Reporterinnen, ein so großes Risiko auf sich zu nehmen?

Nader: Ich bewundere ihren Mut. Eine Kollegin sagte mir: Weißt du, wenn sie mich einsperren, wenn sie mich umbringen – ich bin bereit. Aber die Folgen, die das für meine Familie hätte, belasten mich sehr. Auch die Verantwortung für die Menschen, die sie interviewen, nimmt meine Kolleginnen mit. Wir müssen sehr auf den Quellenschutz achten. Aber unsere Mitarbeiterinnen wissen, dass sie die Einzigen sind, die noch über die Realität von Frauen in ihrer Heimat schreiben. Das lässt sie durchhalten, gibt ihnen Stärke.

SPIEGEL: Und was treibt Sie persönlich an?

Nader: Ich habe das Gefühl, ich schulde den Menschen in Afghanistan etwas. Ich fühle mich verantwortlich. Die Rückkehr der Taliban ist eine Zäsur für das Land. Wenn ich als Journalistin jetzt schweige, kann ich nicht mehr mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen. Ich habe in der Zeit vor der Machtübernahme in Kabul als Reporterin gearbeitet. Auch damals schon war das als Frau eher ungewöhnlich, und ich musste mich gegen viele Vorurteile wehren. Männer haben auf mich herabgesehen. Zum Beispiel wollte man mich immer um 17 Uhr nach Hause schicken, weil zu der Zeit eine Frau eben zu Hause zu sein habe, zum Kochen und Familiendinge erledigen. Ich musste mich durchsetzen.

SPIEGEL: Warum ist die Arbeit Ihrer Redaktion wichtig?

Nader: Wir sprechen mit Frauen auf dem Land, wir haben Zugänge, die ausländischen Medien verwehrt bleiben. Die meisten ausländischen Reporter, die noch ins Land kommen, sind Männer. Sie haben kaum Kontakt zu Frauen, weil die Geschlechter in der Öffentlichkeit strikt getrennt sind und sie auch im häuslichen Umfeld keinen Zugang bekommen. Wie wollen sie also eine Frau interviewen? Außerdem gibt es Bereiche, über die Afghaninnen nur mit einheimischen Frauen reden, weil sie das Gefühl haben, eher verstanden zu werden, etwa wenn es um Vergewaltigungen geht – ohne die Recherchen meiner Kolleginnen würden die meisten Geschichten dieser Frauen fehlen.

SPIEGEL: Wie finanzieren Sie die Website?

Nader: Anfangs konnten wir uns gerade so über Wasser halten. Ich habe meine Ersparnisse aufgebraucht und wir alle haben unbezahlt gearbeitet. Inzwischen erhalten wir Stipendien, Fördergelder und Spenden.

SPIEGEL: Als Kabul an die Taliban fiel, waren Sie bereits nach Kanada ausgewandert, um an der York University in Toronto zu studieren und Ihren Doktortitel in Gender Studies zu machen. Können Sie zurück in Ihre Heimat?

Nader: Nein, das kann ich erst einmal nicht. Ich werde bedroht, die gesamte Redaktion steht unter starkem Druck. Alles, was wir berichten, ist den Taliban zuwider: Frauenrechte, die Anliegen der LGBTQ-Community im Land. Überhaupt die Tatsache, dass sich arbeitende, kritische, unabhängige Frauen zusammenschließen. Wir erzählen die Wahrheit – aus Sicht der Betroffenen. Genau das versuchen die Machthaber zu verhindern.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.

Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier.