Maxim Znaks Gefängnisskizzen :
Im Knast hilft nur die Fantasie

Von Alexander Kosenina
Lesezeit: 4 Min.
Der belarussische Oppositionelle Maxim Znak
Willkommener Anlass für einen neu auszulobenden Preis für Menschenrechtsliteratur: „Zekamerone“, die aus dem Gefängnis geschmuggelten literarischen Skizzen des belarussischen Oppositionellen Maxim Znak, sind vielleicht seine letzten Lebenszeichen.

Auf 19-mal Frühling folgten vielleicht acht Winter im Gefängnis. In Belarus reichte für so ein Schicksal schon die kleinste Bemerkung, falls man Mitglied der Protestbewegung gegen den Diktator Lukaschenko und sein Unrechtsregime war.

Weggesperrt. Das „Auge“ und der „Schnabel“, Guckloch und Luke in der „Schleuse“, also Zellentür, sind jetzt die letzten Verbindungen zur Welt. Mit etwas Glück legt ab und zu eines der streng verbotenen „Schiffchen“ an – eine Streichholzschachtel mit Zucker, Tee oder Kaffee. Eingeschlossen sind die „Fischlein“, meist neun Männer auf engstem Raum, draußen wohnen Willkür, Gewalt und Tyrannei. Drinnen riecht es schlecht, geraten individuelle Eigenheiten der Insassen miteinander in Konflikt, werden Einzelne unter Druck gesetzt, etwa weil sie in Hungerstreik treten. Das alles ist immer noch besser als der Karzer zur verschärften Disziplinierung in völliger Isolation.

Draußen lauert „Zensurio“, den nie jemand gesehen hat – oder ist es vielleicht der leise tretende Briefträger, der irgendwo im Verborgenen die Ausgangspost nach Belieben ins Feuer wirft, nach zwei Tagen oder zwei Monaten zustellt? Vielleicht ist er aber auch ein bibliophiler Kunstliebhaber, der Versepisteln und Bilderhandschriften für „Ausgewählte Werke“ der Gefangenen sammelt? Draußen sind Aufpasser, die durchs Auge gucken und alle bestrafen, die tagsüber wegen Kopfschmerzen kurz auf der Pritsche liegen und die Augen schließen, selbst wenn sie gar nicht schlafen. Und warum kommt eigentlich von der „nachdrücklich“ beantragten und selbst überteuer bezahlten Torte zum vierzigsten Geburtstag nur eines von vielleicht zwölf Stücken an? Vermutlich weiß man eben auch in der Wachstube, was gut ist.

Diese und noch viele weitere bedrückende Details hat der Rechtsanwalt Maxim Znak auf verborgenen Wegen in hundert Zetteln aus dem Gefängnis geschleust. Seit Anfang 2023 ist jeder Kontakt zu ihm, der in einer Strafkolonie bei Wizebsk an der Düna nahe der russischen Grenze saß, abgerissen. Die jetzt von Henriette Reisner und Volker Weichsel übersetzten Texte (Suhrkamp 2023), von denen die engagierte Lesung des Schauspielers und Regisseurs Bjarne Mädel eine Auswahl präsentiert, wäre ein willkommener Anlass für einen neu auszulobenden Preis für Menschenrechtsliteratur.

Es ist eine imaginäre Einladung

Der 1982 geborene Znak trat 2020 mit der gleichaltrigen Marija Kolesnikowa und ihren Mitstreiterinnen Swjatlana Zichanouskaja und Weranika Zepkala zu einem oppositionellen Koordinierungsrat zusammen. Während die Politikerinnen, die sich gegen den Diktator wandten, schließlich nach Litauen und in die Ukra­i­­ne ausreisten, blieben Znak und Kolesnikowa im Land, um weiterzukämpfen. Symbol ihrer Bestrebungen waren rote Lippen und ein mit Händen geformtes Herz. Beide wurden Anfang September 2020 verhaftet und ein Jahr später wegen Verschwörung und Gründung einer Terrororganisation zu zehn und elf Jahren Haft und Strafkolonie verurteilt. Alle Bemühungen von Amnesty International, Europarat und an den Bundeskanzler gerichteten Petitionen blieben erfolglos. Menschenrechtsverletzungen wie diese, das gemahnen uns Maxim Znaks Texte, dürfen über den aktuellen Kriegsereignissen nicht vergessen werden.

Die literarischen Miniaturen, die fast alle eine Länge von zwei bis drei Minuten haben, zeichnen sich durch ihre Tragikomik aus. Vielleicht ist es der nüchternen Sachlichkeit des Juristen zu verdanken, dass die leisen, präzisen und sachgerecht angebrachten Beobachtungen die Anatomie des Bösen umso greller und deutlicher ans Tageslicht bringen. Perfide Vorschriften, eine nur scheinbar geregelte Verwaltung, die lächerlich getarnte Korruption und die niederträchtige Lust am Quälen und Demütigen wirken, so erschütternd und abstoßend sie auch sind, lächerlich und decouvrierend – weil sie gegen die freie Souveränität des Geistes letztlich wenig ausrichten können. Die Stimme, die hier spricht, lässt sich nicht brechen. Mehr noch: Sie zeichnet die Peiniger und Unterdrücker als geistlose, dumpf gewalttätige Barbaren, die gar nicht begreifen, wie subtil sie hier karikiert und genarrt werden.

Maxim Znak: „Zekamerone.“ Geschichten aus dem Gefängnis. Gelesen von Bjarne Mädel.
Maxim Znak: „Zekamerone.“ Geschichten aus dem Gefängnis. Gelesen von Bjarne Mädel.speak low

Der Titel des Bandes verdankt sich dem kürzesten Text, dem Liebesbrief eines Häftlings, abgekürzt „Zek“ oder „z/k“, ursprünglich für „zaključënnyj kanaloarmeec“, Kanalbauzwangsarbeiter. Es ist eine imaginäre Einladung zu den Fischlein in die „Hütte“. Doch dann schlägt die Sehnsucht nach der vermissten Person jäh in Resignation um: „Komm besser nicht. Angst haben muss man nicht, aber ein Tag ist wie der andere, und einen Sinn, eine Wahrheit gibt es nicht.“

Viel zuversichtlicher ist die Verneigung vor „Mascha“ Kolesnikowa mit ihrem „breiten, fröhlichen Lachen und einem riesigen roten Herz über dem Leib“. Im verschneiten Gefängnishof formen die Männer eine Schneefrau und setzen aus roten Ziegelsplittern die Lippen und das Mosaik eines Herzens ein. Als sie weggehen, tritt der Wächter die Gestalt brutal um, der letzte Gefangene hört es auf dem Weg nach drinnen gerade noch. Doch „er beschloss, dass er sich das nur eingebildet hatte“.

Imagination siegt wieder über Realität. Der Wachmann, so viel wird klar, hat in der Schneefrau die Symbolfarben Weiß-Rot-Weiß der belarussischen Freiheitsbewegung erkannt.

Maxim Znak: „Zekamerone.“ Geschichten aus dem Gefängnis. Gelesen von Bjarne Mädel. speak low 2023. 1 mp3-CD, 116 Min., 16,– €.