Einweihung 1924

Nicht einmal die Autobahnen waren Hitlers Idee

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Von Sven-Felix KellerhoffLeitender Redakteur Geschichte
Veröffentlicht am 04.10.2024Lesedauer: 5 Minuten
König Vittorio Emmanuele III. weiht im September 1924 die erste „Autostrada“ Italiens ein
König Vittorio Emmanuele III. weiht im September 1924 die erste „Autostrada“ Italiens einQuelle: Touring Club Italiano/Marka/Universal Images Group via Getty Images

Die erste „Autostrada“ bei Mailand ging Ende September 1924 in den (Probe-)Betrieb. Sie stellte die vermutlich wichtigste Innovation in der Geschichte des motorisierten Individualverkehrs dar.

Die offizielle Eröffnung erfolgte vorzeitig: Als König Vittorio Emmanuele III. am 21. September 1924 den ersten Abschnitt der neuen „Autostrada dei Laghi“ von Mailand an die oberitalienischen Seen in Betrieb nahm, waren die letzten Teile der neuen Verbindung noch gar nicht fertig zementiert. Trotzdem feierte Italien mit Pomp und einer Parade von Militärfahrzeugen die Fertigstellung der „ersten ausschließlich dem Autoverkehr dienenden“ Straße der Welt.

Auch das stimmte nicht, denn es gab bereits seit 1921 quer durch den Berliner Grunewald die „Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße“, dem deutschen Sprachempfinden halber nicht „Avüs“, sondern Avus abgekürzt, für deren Nutzung man anfangs vierteljährlich enorme 1000 Mark zahlen musste. Außerdem waren längst mehrere Rundkurse in Betrieb, auf denen ausschließlich Autos und Motorräder fahren durften – seit 1909 etwa in Indianapolis und seit 1922 in Monza. Trotzdem war die erste „Autostrada“ etwas Neues, denn sie diente nicht mehr dem Vergnügen, das eigene Gefährt zu bewegen, sondern tatsächlich dem schnelleren Erreichen eines angestrebten Ziels.

UNSPECIFIED - 1929: Fascist Italy during the 1920's and 1930's saw many large scale construction endeavours including highways and roads. Entrance to the Motorway 'Autostrada' at Milan Circa 1929 (Photo by Universal History Archive/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Einfahrt zu einer „Autostrada“ in den 1920er-JahrenQuelle: Getty Images

Die Bauarbeiten hatten im Juni 1923 begonnen. In kaum 15 Monaten bewältigten etwa 4000 Arbeiter die Hauptarbeit: Auf dem ersten 49 Kilometer langen Streckenabschnitt von Mailand nach Varese bauten sie, „damit die Automobilisten auf der ganzen Strecke durch keinerlei Hindernisse aufgehalten werden“, wie eine Schweizer Zeitung schrieb, 33 Über- und 56 Unterführungen. „Die Straße berührt direkt kein Dorf, doch werden alle an der Strecke liegenden Ortschaften durch Zufahrtswege erreicht.“ Charakteristisch waren kerzengerade Abschnitte von bis zu bis 18 Kilometer Länge; die wenigen Kurven waren so angelegt, dass sie mit großer Geschwindigkeit durchfahren werden konnten.

Die ersten Wochen nach der offiziellen Eröffnung blieb die „Autostrada“ (nach den letzten notwendigen Zementierungen) den Aktionären der Gesellschaft Società Anonima Autostrade vorbehalten, die den Bau angestoßen, finanziert und organisiert hatte. Danach durften gegen Entrichtung einer Mautgebühr alle Autos die neue Strecke benutzen.

Neun Jahre vor dem propagandistisch inszenierten „ersten Spatenstich“ Adolf Hitlers an der Baustelle der „Reichsautobahn“ am 23. September 1933 war also die erste reine derartige Strecke bereits im (Probe-)Betrieb. Nicht einmal in Deutschland hatte der NSDAP-Chef etwas mit der vermutlich wichtigsten Innovation des motorisierten Individualverkehrs zu tun, denn den ersten Abschnitt der allerdings noch nicht so genannten Autobahn eröffnete Kölns Oberbürgermeister Konrad Adenauer am 6. August 1932 zwischen seiner Heimatstadt und dem damaligen Universitätsstädtchen Bonn.

Konstitutiv für die Autobahn waren zwei Ideen: erstens die Zulassung allein von motorgetriebenen Fahrzeuge und zweitens die Kreuzungsfreiheit. Beides wurde schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erdacht. Anfangs gehörten jedoch getrennte Fahrbahnen für beide Richtungen noch nicht dazu, das dritte bald typische Element: Auf der 1924 eingeweihten „Autostrada dei Laghi“ in Norditalien gab es keinen Grünstreifen, außerdem war die Straße insgesamt nur zweispurig.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) beschrieb den Neubau mit fast euphorischen Worten: „Die Automobilstraße, die heute Mailand mit Varese verbindet, ist wohl die größte Automobilstraße in Europa; sie soll sogar die amerikanischen noch um manches übertreffen.“ Das Projekt ging von einer 1922 gegründeten, rein privatwirtschaftlichen Gesellschaft aus, „die den Zweck verfolgte, Oberitalien mit besonderen Automobilstraßen zu versehen“, deren treibende Kraft der Unternehmer Piero Puricelli war.

Das neue, seit Oktober 1922 amtierende Kabinett des faschistischen Ministerpräsidenten Benito Mussolini erteilte bereitwillig die notwendige Konzession: „Das größte Bedenken, das die italienische Regierung gegen die Konzessionserteilung hätte haben können, wäre gewesen, die Straße konkurriere die bestehenden Eisenbahnlinien. Ein solches aber bestand nicht.“ Ohnehin galten die italienischen Straßen als unterentwickelt; die Verbindungen von Mailand nach Turin, also den beiden industriellen Zentren des Landes, schien nach dem Urteil der „NZZ“ mit „gewissen schlechten Balkanstraßen zu wetteifern; auch die Straße Turin – Domodossola stellt die Verzweiflung eines jeden Automobilisten dar“.

Trotzdem war der Autoverkehr in Italien vergleichsweise stark entwickelt: Außer Großbritannien wurde Anfang der 1920er-Jahre kein europäisches Land stärker per motorisiertem Individualverkehr bereist. Auch gab es eine aufsteigende Autoindustrie, die den Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung darstellte.

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Die „Autostrada“-Gesellschaft hatte seit der Jahreswende 1922/23 mit etwa 3000 Eigentümern Verhandlungen eingeleitet, um das notwendige Areal für den Bau zu kaufen. Der finanzielle Aufwand allein dafür betrug etwa sechs Millionen Lire, also rund 4,5 Millionen Goldmark oder eine Million US-Dollar. Auf heutige Preise lässt sich das nur vage umrechnen, doch mit rund hundert Millionen Euro für den Grundstückskauf liegt man ungefähr richtig.

Dann begann der eigentliche Bau: Zwei Millionen Kubikmeter Erde wurden ausgehoben, da die Straße durch bis zu 22 Meter tiefe Einschnitte in Hügel führte, an anderen Stellen auf bis zu 14 Meter hohen Dämmen. Zahlreiche Wasser-, Telegrafen- und Telefonleitungen, auch Tram- und Eisenbahnlinien erforderten den Bau von Tunneln und Brücken. Die gesamte Straße wurde in Beton erstellt; sie sei „so glatt, dass der Wagen lautlos dahinfahren kann“, berichtete die „NZZ“. Täglich stellten die Betonmaschinen 1923/24 bis zu 6000 Quadratmeter Straßenfläche fertig – also bei einer Breite von mindestens 14 Metern 400 oder etwas mehr Meter Strecke.

Übrigens halten zum Jubiläum 2024 manche Experten die Autobahn für älter als hundert Jahre. Für sie ist der „Long Island Motor Parkway“ in New York, eröffnet 1908, die wirklich erste derartige Verbindung – die allerdings nahezu ausschließlich als Rennstrecke genutzt wurde. Mit Autobahnen im heutigen Sinne, also öffentlichen Straßen allein für den motorisierten Verkehr, um schnell von A nach B zu kommen, hatte diese Strecke wenig zu tun. So wenig wie die verbreitete Legende, Adolf Hitler sei der „Erfinder“ der Reichsautobahnen.

WELTGeschichte-Redakteur Sven Felix Kellerhoff betrachtet als ausschließlicher Nutzer des Öffentlichen Personenverkehrs Autobahnen seit jeher mit ausschließlich historischen Interesse.


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