Es sieht aus wie ein Sonntagsausflug. Menschen aus Weimar, zu Fuß unterwegs. Nicht einmal zehn Kilometer sind es vom Stadtzentrum bis zum Konzentrationslager Buchenwald. Sie gehen nicht freiwillig auf der sogenannten Blutstraße an diesem 16. April 1945 – sondern auf Befehl von US-General Patton. Der hatte angeordnet, dass 1000 Einwohner Weimars das KZ vor ihrer Haustür besuchen müssen.
Um ihnen das Grauen zu zeigen, das die US-Armee fünf Tage zuvor bei der Befreiung des KZ Buchenwald vorgefunden hat. »Jedem das Seine« lautet die zynische Inschrift des Lagertors. Noch am Tag vor der Befreiung wurden Häftlinge auf Todesmärsche gezwungen. Im Lager befinden sich am 11. April 1945 noch 21.000 Überlebende, aber viele in so kritischem Zustand, dass sie nicht gerettet werden können – trotz sofortiger medizinischer Maßnahmen.
Die Tage nach der Befreiung werden intensiv dokumentiert, vor allem zur Beweissicherung. Mehrere Kameraleute der US-Armee filmen, meistens in Schwarz-Weiss. Doch einige drehen auch mit 16-mm-Kameras in Farbe. Diese historischen Aufnahmen zeigen die Nazi-Verbrechen noch unmittelbarer.
Filmausschnitt »Lest We Forget«:
»150 Menschen starben am Tag unserer Ankunft an Unterernährung, Tuberkulose, Typhus usw. 150 starben auch am zweiten und dritten Tag.«
Die Überlebenden sind völlig verzweifelt, erschöpft, schwer krank und dem Tode nah.
Die Bürger Weimars sollen das Ausmaß der Gräueltaten der Nazis mit eigenen Augen sehen. Verpflichtet für diese Zwangsbesichtigung wurden ebenso viele Frauen wie Männer, vorzugsweise Mitglieder der NSDAP.
Im KZ angekommen, müssen sie auf dem Appellplatz warten und werden dann in Gruppen durch das gesamte Lager geführt. Die Konfrontation mit dem Naziterror beginnt.
Filmausschnitt ›Nazi Concentration Camps‹:
»Eines der ersten Dinge, das die deutschen Zivilisten sehen, als sie das Innere des Lagers erreichen, ist ein Pergament, das auf einem Tisch für alle sichtbar ausgestellt ist: ein Lampenschirm aus Menschenhaut, der auf Wunsch der Frau eines SS-Offiziers angefertigt wurde.«
Es handelt sich um die Schreibtischlampe aus dem Arbeitszimmer des Lagerkommandanten Koch. Aus Menschenhaut! Was aussieht wie Bilder, sind Objekte aus der SS-Pathologie – präparierte, gegerbte Haut von den Leichen tätowierter Gefangener. Tattoos von Mordopfern. Wagner, der Lagerarzt von Buchenwald, hatte zum Thema Tätowierungen promoviert. Zu der sadistischen Sammlung gehören auch die Köpfe zweier ermordeter Häftlinge, sogenannte Schrumpfköpfe – aufbereitet wie Trophäen. Und die Organe von KZ-Opfern, konserviert in Gefäßen als anatomisches Anschauungsmaterial. Die Bewohner Weimars müssen sich alles ansehen.
Das KZ Buchenwald ist eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden. Mehr als eine Viertelmillion Menschen aus allen Teilen Europas wurden von den Nazis hierher verschleppt. Politische Gefangene, Widerstandskämpfer, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und Juden. Die Inhaftierten wurden durch Zwangsarbeit und Hunger ebenso vernichtet wie durch Massenexekutionen. Ex-Häftlinge demonstrieren den Befreiern, wie die qualvollen Erhängungen praktiziert wurden. Diese gehörten neben Erschießungen und Giftinjektionen zu den Tötungsmethoden der Nazis.
Die Zwangsbesichtigung zeigt auch das Krematorium, aufeinandergestapelte Leichen, Berge völlig ausgemergelter toter Häftlinge. So schockierend der Anblick ist, es sind doch nur wenige im Vergleich zu den insgesamt 56.000 Todesopfern in Buchenwald.
Unter welchen desaströsen Bedingungen sie zuvor tagtäglich in den Häftlingsbaracken zu überleben versuchten, zeigt der Rundgang.
Filmausschnitt ›Nazi Concentration Camps‹:
»Der Rundgang wird mit einer Zwangsbesichtigung der Wohnräume des Lagers fortgesetzt, wo Gestank, Schmutz und Elend unbeschreiblich sind. Sie sehen das Ergebnis mangelnder Versorgung.«
In den Gesichtern der Bürger Weimars spiegelt sich das Entsetzen angesichts der Spuren des Massenmords. Einige sind dem entsetzlichen Anblick nicht gewachsen.
Aus dieser Hölle aus Tod, Seuchen, Hunger und Gewalt wurden wenige Tage zuvor etwa 900 Jugendliche und Kinder befreit. Die meisten hatten in Kinderblocks nur mithilfe erwachsener Häftlinge überlebt. Auch der vierjährige Joseph Schleifstein. Das rote Stoffdreieck auf seiner Häftlingsuniform kennzeichnet ihn als politischen Gefangenen. Er hatte als eines der wenigen Kinder das Glück, dass auch sein Vater überlebte.
Die befreiten Häftlinge von Buchenwald beobachten nun an diesem Sonntag, wie die Bevölkerung Weimars mit dem Horror des KZ konfrontiert wird. Dem Horror, den sie nur knapp überlebt haben.
Auch Kriegsberichterstatterin Margaret Bourke-White ist Zeugin der Zwangsbesichtigung und berichtet später, dass die Leute immer wieder riefen: »Wir haben nichts gewusst! Wir haben nichts gewusst!« Kameramann Norman Krasna hat das damals ebenfalls gehört und dazu eine ganz klare Meinung:
Filmausschnitt »Lest We Forget«:
»Sie behaupten, sie hätten nicht gewusst, dass es so etwas gibt. Das mag sein. Aber dieses Lager am Stadtrand ist riesengroß. Was dachten sie denn, was hier ist?«
Fast acht Jahre lang existierte das KZ in ihrer Nachbarschaft, und sie sagen: »Wir haben nichts gewusst!« Als die Ex-Häftlinge die banale Schutzbehauptung hören, sind sie außer sich vor Wut. »Ihr habt es gewusst«, schreien sie. »Wir haben neben euch in den Fabriken gearbeitet. Wir haben es euch gesagt und dabei unser Leben riskiert. Aber ihr habt nichts getan.«